Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
verleihen. Sofern er sich dazu entschließen könnte, seinen üblichen liberalen Standpunkt einmal aufzugeben, würde das mehr Menschen auf unsere Seite ziehen als alles andere, was ich mir denken könnte.«
»Natürlich kommt er«, sagte Cordelia. »Er hat sich verspätet!« Auf ihren Zügen mischte sich Ärger mit Geringschätzung.
»Ich denke, wir sollten zunächst ohne ihn fortfahren. Du kannst ihn ja von unseren Plänen in Kenntnis setzen, sobald er da ist.«
Vespasia, die sich ein wenig beiseite gedreht hatte, sah, dass Enid ihren Mann mit unversöhnlichem Hass im Blick anstarrte. Einen Moment später war es vorüber, und Vespasia fragte sich, ob sie es sich eingebildet oder das wechselnde Spiel des Lichts, das durch das Fenster hereinfiel, sie getäuscht hatte.
Im Vestibül hörte man Schritte und Stimmen. Dann wurde die Tür zum Salon geöffnet, und Sheridan Landsborough kam
herein. Er sah sich um und begrüßte alle Anwesenden – Vespasia mit offenkundiger Überraschung und Freude –, ohne sich aber für sein Zuspätkommen zu entschuldigen. Es war, als sei ihm nicht bewusst, dass man ihn erwartet hatte. Auf seinem bleichen Gesicht lag Kummer, und seine Augen wirkten glanzlos. Enid sah ihn mit so tiefer Empfindung an, als dränge ein körperlicher Schmerz sie förmlich zu ihm hin, doch sie konnte ihm keinerlei Trost spenden. Seine Trauer entrückte ihn, und das verstand sie.
An Cordelia war nichts von dieser Wärme zu spüren. Wie so oft in solchen Fällen schien der Verlust die beiden weiter voneinander entfernt, statt einander näher gebracht zu haben. Jeder von ihnen gab sich seinem Schmerz auf seine eigene Weise hin: Sie war voll Wut, während er sich von der Außenwelt noch stärker zurückzog als sonst.
Denoon verhielt sich, als gehe ihn das alles nichts an. »Wir reden gerade darüber, wie wir Tanquerays Gesetzesantrag am besten fördern können«, sagte er zu Landsborough. »Lady Vespasia ist, wie es aussieht, überzeugt, dass man Charles Voisey in dieser Sache als Gegner ernst nehmen muss.«
Landsborough sah ihn nur mäßig interessiert an. »Tatsächlich?«
»Großer Gott, Sheridan«, sagte Cordelia mit finsterem Gesicht. »Wir müssen die Sache mit aller Kraft unterstützen, solange der ungeheuerliche Vorfall noch in allen Köpfen lebendig ist. Die Leute warten nicht, bis wir über unsere Trauer hinweggekommen sind.«
»So ist es«, gab ihr Denoon Recht, die Augen auf Landsborough gerichtet. »Du kennst Voisey doch bestimmt. Welche Schwächen hat er? Wo ist er verletzlich? Wenn ich Lady Vespasia richtig verstanden habe, muss man damit rechnen, dass er große Schwierigkeiten macht, auch wenn ich selbst nicht begreife, welchen Grund er dafür haben sollte.«
»Er dürfte wohl gegen den Antrag stimmen«, sagte Landsborough freundlich. Er setzte sich nicht. Es sah fast so aus, als wolle er die Möglichkeit haben, den Raum jeden Augenblick
wieder zu verlassen. »Soweit ich gehört habe, vertritt er die Ansicht, dass Mäßigung bei einer Reform, die unerlässlich ist, wenn wir in der Gesellschaft weiterhin Frieden haben wollen, größere Erfolgsaussichten verspricht als ein hartes Vorgehen.«
»Der Mann ist Opportunist«, gab Denoon kalt zurück. »Du bist nicht realistisch, Sheridan, Du denkst zu gut von den Menschen.«
Aufgebracht sagte Vespasia: »Sehen Sie das wirklich so?«
»Meiner Überzeugung nach dient, was Voisey über eine friedliche Reform sagt, ausschließlich seinen eigenen Zwecken«, gab Denoon in einem Ton zur Antwort, der erkennen ließ, dass das eigentlich selbst einem Menschen wie ihr klar sein müsste.
»Gewiss«, gab sie zurück. »Aber darum geht es nicht. Für uns ist ausschließlich wichtig, was er sagen wird, nicht, was er denkt.«
Denoon lief tief dunkelrot an. Der Anflug eines Lächelns umspielte Cordelias Mund. »Ich hatte ganz vergessen, wie direkt Sie sein können, Vespasia«, sagte sie, und es klang fast vergnügt.
»Oder wie klug Sie sind«, fügte Landsborough hinzu.
Vespasia quittierte seine Bemerkung mit einem leichten Lächeln.
»Dann lassen Sie mich doch um Gottes willen in den Genuss Ihrer Ansichten kommen«, sagte Denoon missmutig.
Cordelia funkelte ihn an. »Ich hoffe sehr, dass Lady Vespasia mehr tun wird, als uns nur ihre Ansichten mitzuteilen. Da sie in Bezug auf die Dringlichkeit und die Ernsthaftigkeit eines Vorgehens gegen die Gewalttaten hierzulande unsere Meinung teilt und ebenso wie wir findet, dass man etwas unternehmen muss, damit
Weitere Kostenlose Bücher