Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
Freibrief für die Unterdrückung der Menschen.«
»Das ist mir klar.« Sie sah ihn aufmerksam an, bemüht, die
Empfindungen hinter seinen Worten zu verstehen. Wie viel wusste er von dem, was Magnus getan hatte? Was konnte man ihm an Wahrheit zumuten?
»Trau auf keinen Fall Voisey«, sagte er plötzlich mit erstickter Stimme. »Bitte! Was immer du tust, Vespasia, überleg dir gut, wem du dich anvertraust. Die Gefahr ist weit größer, als dir bewusst sein dürfte.«
Dann, als befürchte er, jemand könne ihn aus einem der Fenster hinter ihm beobachten, verabschiedete er sich, half ihr in die Kutsche und neigte höflich den Kopf, als diese anfuhr.
KAPITEL 6
Tellman wollte Taschen-Jones so schnell wie möglich aufspüren, doch war ihm klar, dass er dabei mit größter Umsicht zu Werke gehen und das vor allem unbedingt nach Feierabend tun musste. Sofern er von der Bow Street aus Nachforschungen anstellte, würde man von ihm wissen wollen, warum er sich für jemanden interessierte, der seine Straftaten – sofern es sich um solche handelte – im Revier einer anderen Wache begangen hatte, und Wetron würde früher oder später davon erfahren. Dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, und zwar einer vermutlich äußerst kurzen, bis er Tellmans Vorhaben durchschaut hatte.
Am nächsten Abend zog er sich um. Es war ihm zuwider, in alter, abgetragener Kleidung auf die Straße zu gehen, weil ihn das an seine Kindheit erinnerte, in der er nichts anderes besessen hatte. Aber es war unvermeidlich. Er durfte nicht auffallen, zumal er, das war ihm durchaus klar, mit seinem hohlwangigen Gesicht und seinem scharfen Blick an nur allzu vielen Stellen bekannt war. In dieser Hinsicht, doch wohl auch nur in dieser, bedeutete es einen gewissen Vorteil, dass er seine Nachforschungen nicht im eigenen Revier betrieb, sondern weiter im Osten der Stadt im Revier der Wache Cannon Street. Allerdings wagte er keinen der dortigen Kollegen um Hilfe zu bitten, weil dann Simbister von seinem Vorhaben erfahren und das binnen weniger Stunden an Wetron weitergeben würde. Falls Pitts Befürchtung stimmte, dass die Korruption in der Polizei weit verbreitet war,
ermittelte Tellman gegen seine Kollegen. Da konnte er nicht gut erwarten, dass sie ihn auch noch unterstützten.
Er war im East End zur Welt gekommen und aufgewachsen, und so kannte er dort Straßen und Gassen, Hinterhöfe und Wegabkürzungen, Wirtshäuser und Pfandleihen. Auch wenn er in jener Gegend mit so gut wie niemandem mehr Kontakt hatte, wusste er doch, wie die Menschen dort lebten. Es war ein sonderbar unbehagliches Gefühl, sich wieder an den vertrauten Orten aufzuhalten, als habe ihn der Geruch dieses Stadtviertels nie verlassen und als sei seinen Füßen nach wie vor jeder einzelne Stein des unebenen Pflasters vertraut, über das er jetzt ging.
In jungen Jahren war er an all diesen Häusern und Geschäften vorübergekommen, in durchlöcherten Schuhen, immer ein wenig hungrig, immer mit der unausgesprochenen Frage im Kopf, ob es zu Hause etwas zu essen oder eine warme Stube geben werde, immer voll Angst vor der Zukunft. Falls Taschen-Jones aus dem East End stammte, würde Tellman ihn so gut verstehen, dass er alles andere als glücklich wäre, ihn zu verfolgen. Grover gegenüber hatte er zwiespältige Empfindungen. Einerseits empfand er Mitleid, kannte er doch selbst das Leben, dem dieser Mann zu entfliehen versuchte, andererseits hasste er ihn, weil er zum Verräter an der Polizei geworden war, die Tellman wie auch ihm selbst den Weg aus diesem Leben heraus ermöglicht hatte.
Bestimmt hatte auch Grover mit angesehen, wie sich seine Mutter abmühen musste, um ihn und seine Geschwister zu ernähren und zu kleiden. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte sie, von den erbärmlichen Lebensumständen oder Krankheiten geschwächt, mehrere ihrer Kinder verloren. Nie würde Tellman die Stille, die Angst und den Geruch nach Kummer im Elternhaus vergessen. Mit dem Tod eines alten Menschen musste man rechnen, doch wenn es um ein Kind ging, gab es auch nach all den Jahren keinen Trost. Er brauchte nur die Augen zu schließen, um das Gesicht seiner Mutter vor sich zu sehen, wie es an jenem Abend gewesen war, und erneut seine eigene Hilflosigkeit zu spüren.
So verabscheute er Grover teils, weil dieser Menschen aussaugte, die aus demselben Milieu stammten wie er selbst, brachte aber auch ein gewisses Verständnis dafür auf, dass sich ein Hungernder, vom verzweifelten Willen zu überleben
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