Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
sagte sie. »Ich weiß zu schätzen, dass Sie meine Gefasstheit nicht als Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod meines Sohnes missdeuten.«
»Ich bitte Sie! Der bloße Gedanke wäre widersinnig und für Sie beleidigend«, beeilte sich Vespasia zu sagen. »Man weint seine
Tränen im stillen Kämmerlein und nicht vor den Augen der Welt. Ich bin gekommen, weil mir, während ich hin und her überlegt habe, was wir tun könnten, um gegen solche Dinge zu kämpfen, dies und jenes eingefallen ist. Auch ist mir klar, dass wir es uns nicht erlauben können abzuwarten, bis günstigere Umstände eingetreten sind. Wir haben es mit Gegnern zu tun, die nicht uns persönlich feindlich gesinnt sind, sondern der Sache, die wir vertreten. Sie werden nicht zögern, gerade dann zuzuschlagen, wenn sie uns für besonders verwundbar halten.«
Cordelia sah sie neugierig an; das Paradoxe an der Situation entging ihr nicht. »Sie meinen, wir haben Feinde im Unterhaus?«, fragte sie.
»Unbedingt, und zwar aus einer ganzen Reihe von Gründen«, erläuterte Vespasia. »Manche werden einfach die Meinung vertreten, dass es unklug sei, der Polizei mehr Macht einzuräumen, andere werden ihren eigenen Ehrgeiz und ihre Vorlieben in den Vordergrund rücken. Dann gibt es natürlich auch noch die, die solche Situationen dazu nutzen, persönliche Auseinandersetzungen zu führen. Auf keinen Fall dürfen wir zulassen, dass uns irgendeine dieser Gruppierungen in einen Hinterhalt lockt.«
»Einen Hinterhalt?«, sagte Cordelia nachdenklich. Sie schien nicht sicher zu sein, ob es das richtige Wort war. »Ich nehme an, dass Sie einen Plan haben, wie wir uns verteidigen können, wenn Sie sozusagen mit dem Schwert in der Hand hier auftauchen?«
»Ich glaube schon. Aber zu dessen Ausführung ist Ihre Hilfe unerlässlich«, sagte Vespasia, die mit der Absicht gekommen war, möglichst viele Informationen über die Gegenseite zu erlangen. Sie standen so dicht nebeneinander am Fenster, dass sich ihre Röcke berührten. »Ich bin sicher, dass Sie weit mehr wissen als ich, aber ganz davon abgesehen müssen wir zusammenarbeiten.«
Cordelia zögerte. Sie war auf keinen Fall bereit, sich hinters Licht führen zu lassen. Immerhin war dieser Vorschlag angesichts ihrer früheren Beziehung geradezu revolutionär.
Vespasia wartete. Es wäre unklug, rasch vorzugehen, denn dann wäre ihre eigene Verwundbarkeit erkennbar. Ungeachtet
ihres Mitgefühls für Cordelia durfte sie sich keineswegs dazu verleiten lassen, das wahre Wesen dieser Frau zu übersehen. Mit schwachem Lächeln fügte sie hinzu: »Zumindest in dieser Sache.«
Cordelia entspannte sich. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
»Danke«, antwortete Vespasia, »sehr gern.«
Cordelia betätigte den Klingelzug.
Nachdem sie dem Mädchen Anweisungen gegeben hatte, setzten sich beide und strichen ihre Röcke mit nahezu identischen Bewegungen glatt. Jetzt war der richtige Zeitpunkt für die Ausführung von Vespasias Plan. Sie hatte das Bündnis geschmiedet und musste nunmehr eine rechtfertigende Begründung liefern.
»Die Gegenseite wird unsere Motive in Zweifel ziehen«, begann sie. »Daher müssen wir sicher sein, dass wir unwiderlegliche und nachvollziehbare Gründe haben, und nichts als diese vortragen. Zu weitschweifige Erklärungen würden wie eine Entschuldigung wirken.«
Cordelia schien von diesen Worten nicht beeindruckt zu sein.
»Man wird keine Möglichkeit haben, Sie oder Mr Denoon zu kritisieren.« Vespasia gab sich die größte Mühe, ihre Stimme nicht ungeduldig klingen zu lassen. »Und möglicherweise auch nicht Mr Tanqueray, obwohl ich über ihn nicht genug informiert bin, als dass ich meiner Sache in Bezug auf ihn sicher sein könnte. Wie aber sieht es mit unseren anderen Verbündeten aus? Es ist ganz klar, dass man als Ersten immer den verwundbarsten Gegner herausgreift und später einen nach dem anderen von denen aufs Korn nimmt, die ihn unterstützen.«
Plötzlich erhellte sich Cordelias Gesicht. »Natürlich«, bestätigte sie. »Und das funktioniert auch umgekehrt. Wir sind also gut beraten, wenn wir festzustellen versuchen, wer unsere Gegner sind.«
Vespasia gelang es, ihre Augen, ihre Stimme und auch die Hände zu beherrschen, die scheinbar gelöst in ihrem Schoß lagen. Ihr war klar, dass sie ein gefährliches Spiel spielte. »Genau
so ist es«, stimmte sie zu. »Einer von ihnen dürfte Somerset Carlisle sein. Er ist etwas exzentrisch, aber beliebt«, erklärte sie. »Manche haben
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