Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
die Polizei Mittel dafür in die Hände bekommt, bevor die Flut der Zerstörung über uns zusammenschlägt, kann ihr Handeln von großem Nutzen sein.«
Einen Augenblick lang sah man Denoons Gesicht an, wie schwer es ihm fiel, seine Überheblichkeit zu zügeln. Dann hatte er sich im Griff und wandte sich an Vespasia: »Das wäre großartig. Mir ist bewusst, dass Sie in der Gesellschaft beträchtlichen Einfluss haben, und das möglicherweise bei Menschen, auf deren
Unterstützung wir angewiesen sind. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass es für uns unschätzbar wäre, wenn Sie diesen Einfluss geltend machen könnten.«
Das Mädchen brachte Tee, und die Unterhaltung wandte sich der praktischen Seite der Frage zu. Namen von Unterhausabgeordneten, von Herausgebern anderer Zeitungen und politischer Schriften wurden genannt, und man überlegte, auf welche Weise sich deren Unterstützung gewinnen ließe oder was man tun könnte, falls sie sich negativ äußerten.
Vespasia brach auf, sobald es die Höflichkeit gestattete. Sie entschuldigte sich mit weiteren Verpflichtungen und verabschiedete sich von Cordelia und Denoon. Enid hatte den Raum einige Minuten zuvor ohne nähere Erklärung verlassen. Vespasia bat, sie zu grüßen, und ging, von Landsborough begleitet, ins Vestibül hinaus.
Er teilte dem Butler mit, man möge ihre Kutsche vorfahren lassen. Während sie wartete, fiel ihr Blick zufällig auf einen Gang, aus dem eine Tür in den Garten führte. Dort stand Enid mit dem Rücken zu ihr in einem allem Anschein nach angeregten Gespräch mit einem gut aussehenden jungen Lakaien. Da dieser nicht die Livree der Familie Landsborough trug, war es wohl ihr eigener. Vespasia fiel sein Gesichtsausdruck auf, und so fasste sie ihn genauer ins Auge. Er stand vor Enid, die näher an ihn herangetreten war, als im Umgang mit Lakaien üblich, und sah ihr mit gesammelter Aufmerksamkeit ins Gesicht, so, als gebe sie ihm Anweisungen für eine komplizierte und höchst wichtige Aufgabe. Während sie leise und eindringlich auf ihn einredete, schien sie für nichts um sie herum Augen und Ohren zu haben.
Als sie aber Schritte auf dem Steinboden des Vestibüls hörte, unterbrach sich Enid mitten im Satz. Der Lakai vergrößerte den Abstand zu ihr, nahm die übliche ehrerbietige Haltung von Dienstboten ein und ging, vermutlich, um den ihm erteilten Auftrag auszuführen. Enid kehrte langsam ins Vestibül zurück und trat auf Landsborough zu, als sei nichts gewesen.
Nachdem sich Vespasia von Enid verabschiedet hatte, kehrte
diese zu den anderen in den Salon zurück, während Landsborough Vespasia an die Kutsche begleitete.
»Glaubst du wirklich, dass es sinnvoll ist, der Polizei weitere Schusswaffen zu geben?«, fragte er mit besorgtem Gesicht, als sie den Gehweg erreicht hatten.
Sie zögerte. Er sah sie verwirrt an. Eindeutig erwartete er, dass sie seine Offenheit mit Ehrlichkeit vergalt. In früheren Zeiten hatten sie einander so manches Mal statt der Wahrheit lieber etwas Liebenswürdiges gesagt, doch nie mit der Absicht, den anderen zu täuschen. Beiden war klar gewesen, dass es lediglich darum ging, Dingen, die sonst verletzend hätten sein können, die Schärfe zu nehmen. Dieser Teil ihrer Beziehung aber gehörte längst der Vergangenheit an. An die Stelle des einstigen Begehrens waren Kummer und Weisheit getreten. Die Einsamkeit, die sie jetzt empfanden, war von anderer Art und bedurfte anderer Mittel, sie zu heilen.
Welche Art von Wahrheit würde er nun, da er so große Qual litt, ertragen können? Als ihr einfiel, mit welch überströmender Güte Enid ihn angesehen hatte, musste sie nicht nur an Cordelias Kälte denken, sondern auch daran, dass ihm diese völlig gleichgültig zu sein schien. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass es zwischen den beiden auch andere Kümmernisse gab, die sie äußerstenfalls erraten konnte. Aber wie weit durfte sie ihm im Interesse aller trauen?
Eine Kutsche ratterte vorüber, und als sie den Blick hob, sah sie das Geschirr des Pferdes in der Sonne blitzen.
»Wir müssen der Anarchisten unbedingt Herr werden«, sagte sie. »Ich weiß aber noch nicht, wie.«
»Der Polizei mehr Macht zu geben dürfte nicht der richtige Weg dazu sein«, sagte er gemessen. »Magnus hat mir berichtet, dass sie ihre Kompetenzen bereits jetzt häufig überschreitet. Das Gesetz darf nicht nur dazu dienen, die Schuldigen zu fassen und zu bestrafen, es muss auch die Unschuldigen schützen, sonst ist es nichts als ein
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