Flammenopfer
dort aus sehen konnte, auch als er ans Fenster trat. Langsam streckte er den Kopf vor und schaute durch die Öffnung auf den Hof. Der Kranwagen war nicht mehr da. Er sah niemanden. Beim Blick zur Seite fiel ihm auf, dass das Nachbarbüro einen schmalen Balkon, eine langgezogene Terrasse aufwies. Also zog er sich vom Fenster zurück, schritt in den Nebenraum, sah sich um und trat durch die gesplitterte Terrassentür hinaus. Dies alles in der Geschwindigkeit eines Warans.
Tobias Traube dehnte den Hals und schaute von der Terrasse zum Hof hinunter. Direkt vor ihm war die Brüstung abgerissen. Wahrscheinlich, um der Feuerwehrleiter einen besseren Ansatz zu bieten. Er drehte den Kopf nach oben und horchte, ob jemand auf dem Dach war. Er blickte zurück in die Büroruine, aus der er gekommen war. Dann steckte er mit den Augen den Weg ab, den er bis zum Nachbargebäude gehen würde. Es mussten sechs bis acht Schritte sein. Auf dieser Strecke würde man ihn von jeder Seite sehen können. An die Terrasse grenzte eine gut zweieinhalb Meter hohe Wand, an die sich ein Schornstein anschloss, der sich nach ein paar Zentimetern in zwei Kamine teilte, die gut fünfzig Zentimeter Abstand zueinander hatten.
Er trat bedächtig ins Büro zurück. Der Qualmgeruch ließ ihn würgen. Er nahm eines der Holzgerippe, wahrscheinlich die Tür eines Schrankes, klopfte den Ruß ab und testete mit einem Fuß, ob das Gerippe noch stabil war. Er nahm es mit auf die Terrasse, sah prüfend in jede Richtung und ging dann mit sechs schnellen Schritten zur Mauer, wo er seine provisorische Leiter anlehnte. Noch ein Blick zurück, ein weiterer nach unten, dann nahm er die erste Sprosse. Das Holz knarzte. Die nächsten Sprossen waren besser erhalten und trugen ihn. Er konnte zwischen die beiden Kamine fassen. Schwerer war es, sich hochzuziehen und gleichzeitig durch die beiden Schornsteinhälften zu quetschen. Der linke Ärmel seiner Jacke riss auf. Dann stand Traube auf dem Nachbardach hinter den Schornsteinen und sah auf die Terrasse hinunter. Ich bin eine armselige Figur, dachte er. Unten war das verräterische Rußgerippe. Er musste sich beeilen.
Das Dach war mit Rasen bewachsen. Am Rand hingen zwei Satellitenantennen, in der Mitte standen Aluminiumkästen mit Aluminiumkäppchen – moderne Klimaanlagen. Er strich mit den Schuhen über den Rasen. Wie sollte er in diesem ökologischen Unkraut etwas finden?
Es stimmte alles. Der Doppelschornstein gehörte zu dem ausgebrannten Bürogebäude. Man konnte auf das Nachbardach gehen und sich ohne Probleme nähern. Hier müsste es also zu finden sein. Er bückte sich und nahm die Hände zu Hilfe. Der Rasen auf dem Dach war nicht gepflegt, wahrscheinlich diente er der umweltverträglichen Dachabdeckung und Klimatisierung. Ein steuergefördertes Vorzeigeobjekt ohne Erholungswert.
Er kniete auf dem Dach und strich mit den Händen durch das Gras. Ab und zu rückte er ein Stück weiter. Die Geschwindigkeit steigerte sich, gegen seinen Willen. Hier oben kann dich niemand sehen, es macht nichts, wenn du nicht schnell bist. Dann findest du auch was in diesem Gestrüpp.
Aber er fand nichts. Eine Wespe interessierte sich für sein Gesicht und ließ sich nicht beirren. Er stand auf und wedelte sie von sich. Er ging einen Schritt weiter und ließ den Blick schweifen. Durch das dünne Grün müsste doch etwas zu sehen sein. Vielleicht ist es doch die andere Seite, dachte er. Er sah über das Bürogebäude hinweg. Auf der anderen Seite kennzeichneten ebenfalls Schornsteine die Grenze zum Nachbargebäude. Darauf hatte er nie geachtet – auf welcher Seite die Zeichen waren. Meist gab es nur eine Seite. Bei dem Getränkekiosk und bei dem Gartenhaus des Kinderheims hatte es keine Seiten gegeben, nicht mal Schornsteine. Er hatte das Gefühl, auf der falschen Seite zu sein.
Du musst rüber, dachte er. Zurück über die Terrasse. Noch ist Zeit, noch ist vielleicht Zeit. Durch die Zwillingsschornsteine hindurch hinunterzuklettern war nicht einfacher als das Heraufkommen. Um die Jacke war es nicht mehr schade, und auf die Hände achtete er auch nicht mehr. Die unterste Sprosse seiner provisorischen Leiter überging er. Das Bein fühlte sich dadurch überdehnt an, aber er wollte nicht springen.
Mit der Sohle zerrieb er die abgebröselten Rußteile der verkohlten Sprossen. Zu dem anderen Haus führte keine Außenterrasse. Jedenfalls nicht auf dieser Seite. Konnte man durch die Büros hindurch zur gegenüberliegenden Seite
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