Flandry 6: Schattenwelt
fühlte sich an wie der Herzschlag eines gefangenen Vogels. Nein. Hol es nicht wieder zurück. Die Angst, den Hass, den geliebten Toten.
»Sehen Sie«, fuhr er fort, »ich wundere mich einfach, weshalb sich Dennitza gegen uns stellen sollte. Ihr Gospodar hat Hans unterstützt und wurde mit der Autorität über seinen ganzen Sektor belohnt. Sicher, damit hat er eine gewaltige Arbeitslast geschenkt bekommen, wenn er gewissenhaft ist. Gleichzeitig aber hat er – und mit ihm sein Volk – ein sehr weit gehendes Mitspracherecht bei der Zukunft der Region. Eine Meinungsverschiedenheit über die Verteidigungsmechanismen Ihres Heimatsystems und seiner direkten Nachbarn … nun, das ist doch nicht mehr als eine Meinungsverschiedenheit, nicht wahr, und der Gospodar hat noch immer Aussichten, als Sieger daraus hervorzugehen. Können Sie mir keinen triftigeren Grund nennen, weshalb er Ärger verursachen sollte? Ist kein Kompromiss möglich?«
»Nicht mit dem Imperium!«, rief Kossara mit aufkochendem Zorn.
»Zwischen Ihnen und mir denn wenigstens? Rein intellektuell? Wollen Sie mir nicht Ihre Seite der Geschichte erzählen?«
Kossaras Blut beruhigte sich. »Ich … nun, wenn ich nur für mich sprechen soll: Die Kämpfe haben mich den Mann gekostet, den ich heiraten wollte. Was nutzt ein Imperium, wenn es die Pax nicht aufrechterhalten kann?«
»Das tut mir leid. Aber hat je eine Institution Sterblicher perfekt funktioniert? Hans bemüht sich um Restauration. Außerdem, überlegen Sie einmal. Warum sollte der Gospodar – wenn er wirklich eine Rebellion plant – ausgerechnet Sie, ein Mädchen, seine eigene Nichte, nach Diomedes schicken?«
Sie sammelte allen Willen und alle Kraft, die sie noch übrig hatte, schloss die Augen und suchte in der Vergangenheit.
Bodin Mijatovic war ein großer Mann in mittleren Jahren, groß und aufrecht. Er hatte das breite, stupsnasige, gutaussehende Gesicht seiner Familie, eingerahmt von graumeliertem dunkelblondem Haar und kurz gestutztem Bart, vom Wetter eines Lebens faltig und gebräunt. Seine Augen waren Berylle. An diesem Tag trug er einen roten Umhang über einer braunen Tunika und Hosen der gleichen Farbe, Stiefel aus Gromatzleder, am silberbeschlagenen Gürtel das althergebrachte Messer in einer Scheide und eine Schusswaffe in einer Pistolentasche.
Wie ein Dyavo schritt er auf der Sonnenterrasse auf und ab, die aus dem Zamok ragte. Grau, gemildert von blühenden Kletterpflanzen, streckte die alte Burg (wiewohl die eigentliche Festung tiefer lag, aus gewachsenem Gestein gehauen) Mauern, Tore, Türme, Zinnen, windzerzauste Banner über die steilen Ziegeldächer der Altstadthäuser mit ihrem pastellfarbenen Fachwerk. Zorkagrad fiel nach unten ab; Straßen wurden von gewundenen Wegen zu breiten Boulevards; Verkehr flitzte um die geometrischen Bauten, die spätere Generationen aus modernen Materialien errichtet hatten. Wasserschiffe drängten sich in Hafenbecken und Bucht. Der Stoyansee spannte sich bis hinter den Horizont nach Westen, ein tiefes Blau, vom wolkenlosen Himmel mit Glitzerwerk bestreut. Anderswo, außerhalb der kleinen Stadt, sah Kossara aus ihrer Höhe Kulturland längs der Ufer: Bäume, Hecken, Gras und gelbliches Terrakorn in Grün; Blau oder Purpur, wo einheimische Blatt- und Graspflanzen verblieben; Häuser, Scheunen, Schuppen, Solarkrafttürme weit verstreut; ein winziges Stück vom Fluss Ljubisha, der vom Norden herabströmte, als brächte er Grüße aus dem Pfarrhaus ihres Vaters. Näher floss die Elana nach Osten, zum Meer; Schleppkähne krochen, Boote tanzten auf ihren Wellen. Hier mitten im Kazan konnte sie nicht die Kraterwände sehen, die diese Wasserläufe durchbrachen. Sie spürte sie aber, Bollwerke gegen Gletscher und Wüste, ein Kelch der Wärme und Fruchtbarkeit.
Eine Brise umfing sie, die nach Blumen duftete und die lieblichen Lieder der Guslars herantrug, die als rötliche Schemen umherflitzten, wo sie in den Ranken nisteten. Kossara setzte sich wieder und dachte unter einem leisen Schuldgefühl, wie schade es sei, solch eine Stunde mit Politik zu vergeuden.
Die Stiefel ihres Onkels knallten auf die Planken. »Glaubt Molitor denn, es kommt nie wieder ein Olaf oder ein Josip auf den Thron?«, polterte der Gospodar. »Ein Clown oder ein Krebsgeschwür … und wieder werden Politischer Rat, Admiralität und öffentlicher Dienst umgangen, terrorisiert oder korrumpiert. Wenn wir uns allein auf die Navy verlassen, wer verteidigt uns dann gegen
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