Flaschendrehen: Roman (German Edition)
ich Clemens dadurch auch nicht häufiger sehen würde, es sei denn, ich begleitete ihn auf seine Reisen, was er allerdings sofort abgelehnt hatte, weil ihn das zu sehr ablenken würde.
Meine Enttäuschung war groß gewesen, und so hatte ich ihn angeschrien, wozu er eigentlich eine Freundin brauche, wenn er sie eh nie sah und offensichtlich das Interesse verloren hatte.
Das sei eine gute Frage, und ehrlich gesagt, würde er sich das auch gerade fragen, war seine beunruhigende Antwort gewesen. Clemens konnte plötzlich derart distanziert und kühl sein, dass es nicht zu begreifen war. Leider konnte ich überhaupt nicht souverän über den Dingen stehen, und je mehr ich das Gefühl hatte, dass Clemens mir entglitt, umso mehr versuchte ich, an ihm festzuhalten, und begann zu klammern, was ich eigentlich niemals machen wollte. Zwar hatte er eine Stunde nach unserem Streit Blumen geschickt, aber trotzdem fühlte ich mich plötzlich seiner nicht mehr so sicher. Als ob dieses Gefühlschaos neben meinem fordernden Job nicht ausreichte, kam hinzu, dass meine Umgebung komplett durchgedreht war oder ich es zumindest so interpretierte. Anfangs meinte ich verrückt zu sein und mir Unmögliches einzubilden, aber aus einem nicht erklärbaren Grund gab es immer wechselnde Stimmungshochs und -tiefs, die in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen mussten, und das lief so ab: Entweder hatte ich unglaublich gute Laune und konnte die Welt umarmen, während alle anderen um mich herum nur genervt und mürrisch dreinblickten, oder Michi war unglaublich happy und ich nicht gut gelaunt, oder Diane strahlte vor Glück, derweil ich mich in einem Stimmungstief befand, meistens ausgelöst, weil Clemens mir fehlte oder er eine Verabredung mit mir abgesagt hatte. Es war ein bisschen wie mit dem Geisterfahrer, der im Radio die Verkehrswarnung hört: »Achtung, ein Geisterfahrer auf der A8« – und er sagt nur kopfschüttelnd – »Einer? Hunderte!« Sollte heißen, ich war mir nicht mehr sicher, ob ich mir alles einbildete und falsch interpretierte oder ob mich meine Wahrnehmung doch nicht trog. Die einzig erfreuliche Nachricht war die, dass das Thema Clemens sowohl für Michi als auch Diane gestorben war. Sie mussten eingesehen haben, dass ihre Bemühungen unerwidert blieben, und seither wurde Clemens mit keinem Wort mehr erwähnt, es sei denn beruflich. Wahrscheinlich war das der einzig positive Nebeneffekt gewesen, den seine Abwesenheit mit sich brachte, auf Dauer war es schwierig, jemanden gut zu finden, den man nie sah.
Nicht einmal vom Noise Festival hatte Diane ausführlich erzählt, wo sie immerhin drei Tage mit Clemens gemeinsam verbracht hatte, was vor wenigen Wochen noch eine Steilvorlage gewesen wäre, wenigstens um Michi zu ärgern. Ich war ja schon länger keine Konkurrenz mehr in ihren Augen, da ich, wie sie immer noch annahm, unsterblich in Ben verliebt war, der uns gerade eine große Tüte Popcorn besorgte.
»Wusstest du eigentlich, dass In the mood for love einer meiner Lieblingsfilme der letzten Jahre ist?«, fragte ich ihn, um das Thema auf Filme zu lenken und keine weiteren Fragen zu Clemens beantworten zu müssen. Klar wusste er das, hatte ich oft genug fallen lassen, außerdem hatte er mir ja die DVD geschenkt.
Ben mochte jede Art von Film, Musik oder Buch, solange sie eine melancholische Grundstimmung hatten, und melancholisch war In the mood for love allemal.
Allein die Filmmusik konnte einem die Verzweiflung ins Herz spielen. Dann die Liebesgeschichte einer Liebe, die nicht gelebt werden kann, die unterdrückten Sehnsüchte und Gefühle, weil das Paar nicht die Ehepartner betrügen will, obwohl sich die beiden in ihrer Liebe zueinander verzehren, aber verzichten. Ungelebte Geschichten, die Fragen offen ließen, was wäre wenn gewesen, trieben mich im wirklichen Leben in den Wahnsinn. Ich war nicht der Typ, der gern Chancen oder vielleicht das große Glück verpasste, weil er sich nicht getraute, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Ben hingegen fand diesen Ansatz spannend, weil man sich ein Leben lang ausmalen konnte, wie alles anders hätte verlaufen können. Er plädierte dafür, das Schicksal entscheiden und alles passieren zu lassen, wie es passieren sollte.
»Weißt du, wenn zwei füreinander bestimmt sind, finden die Liebe oder das Schicksal einen Weg, die beiden zu einen«, sagte Ben, während wir aus dem Kino gingen. Draußen schneite es große, schwere Flocken, der erste Schnee in diesem Jahr. Es gab
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