Flaschendrehen: Roman (German Edition)
vorhersehbar war.
Im letzten Moment drehte ich meinen Kopf weg und flüsterte mit belegter Stimme.
»Ich habe Angst!«
Angst, alles aufs Spiel zu setzen, Angst, dass es sich so gut anfühlte, wie ich es immer vermutet hatte, Angst, wieder da zu landen, wo ich nicht mehr sein wollte, Angst, eine Freundschaft zu verlieren, Angst, wie Liv zu enden, Angst, wieder die Kontrolle zu verlieren.
Ben zog mich an sich und umarmte mich. Allein diese Umarmung verursachte mir derart weiche Knie, dass ich erst gar nicht wissen wollte, wie sich ein Kuss anfühlte.
»Wir dürfen uns nicht küssen«, sagte ich schwach und war kurz davor, meine Beherrschung zu verlieren. Er ließ mich los.
»Du hast Recht!« Mit einem Schlag schien Ben sich wieder im Griff zu haben, die Nähe, die noch Sekunden zuvor zwischen uns bestanden hatte, war weg.
»Ich glaube, es ist besser, wenn du gehst!«, sagte er und stand auf. In seinem Gesicht konnte ich keine Regung festmachen.
Das musste er mir nicht zweimal sagen. Nichts wie weg wollte ich, raus aus diesem Gefühlsstrudel. Ohne mich richtig zu verabschieden, packte ich schleunigst meine Sachen zusammen und rannte kopflos nach Hause.
Was war da bloß gerade passiert?
Ich dachte nicht groß nach, lief zu meinem Auto, das sich auf halbem Weg zwischen Bens und meiner Wohnung befand, und fuhr geradewegs zu Sarah. Ich musste mit jemandem sprechen, sie würde mich verstehen, sie würde eine Erklärung finden und mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen.
Vor ihrer Tür war kein Parkplatz. Schnell entschied ich mich, zweite Reihe zu parken, stieg aus und klingelte Sturm, doch nichts rührte sich.
Ich sah auf die Uhr, es war halb drei. Sie musste zu Hause sein, es sei denn, Sarah hatte Notdienst, aber das wüsste ich. Ihr Handy war ausgeschaltet und nur die Mailbox erreichbar.
Das Krankenhaus, in dem sie arbeitete, lag auf meinem Weg, also fuhr ich vorbei, doch die Dienst habende Schwester suchte Sarahs Namen auf dem Dienstplan vergeblich. Sie ließ sie für alle Fälle ausrufen, aber Sarah blieb verschwunden. Wo bitte war sie an einem stinknormalen Donnerstag um drei Uhr nachts? Hatte sie ein Date? Zu wünschen wäre es ihr, nur hatten wir vor dem Kino telefoniert, ich hatte versucht sie zu überreden mitzukommen. Sie hatte abgelehnt, weil sie zu Hause bleiben und sich einen gemütlichen Abend machen wollte.
Ich sprach ihr beunruhigt auf die Mailbox und fuhr wieder in den Osten direkt zu Rudi.
Nach nur zweimal klingeln öffnete er mir verpennt. Wenn er um diese Uhrzeit nicht anzutreffen gewesen wäre, hätte ich mich nicht weiter gewundert.
»Ich muss dringend mit dir reden«, warf ich meinem verdutzten Bruder entgegen und stürmte an ihm vorbei in die Küche, wo ich mir ein Glas Milch einschenkte. Milch soll angeblich beruhigend wirken, zumindest trinkt sie jeder amerikanische Serienheld, wenn es verstörende Nachrichten zu verdauen gibt.
»Was ist denn passiert?«, wunderte sich Rudi, inzwischen hellwach. Ja, wenn ich das wüsste, wäre ich wohl kaum bei ihm.
»Es ist wegen Ben!«
Rudi wurde weiß im Gesicht.
»Was ist mit Ben? Ist was passiert?«
»Allerdings, wir haben uns vorhin fast geküsst!«, rief ich empört.
Rudi fiel ein Stein vom Herzen, und er warf mir vor, ihm einen tierischen Schrecken eingejagt zu haben. Das hatte mir sein bester Freund Ben auch! Überhaupt, eigentlich war Rudi ja an allem schuld. Wenn er sich früher einen anderen Freund ausgesucht hätte, einen netten, unscheinbaren oder hässlich harmlosen, aber nein, er musste sich ja unbedingt mit Ben anfreunden, der schon viele Mädchen in den Wahnsinn getrieben hatte und das Objekt unerfüllter Liebe schlechthin darstellte.
Haarklein berichtete ich Rudi, was sich zugetragen hatte.
»Und weißt du, was das Schlimmste ist? Ich hab nicht ein einziges Mal an Clemens gedacht! Ich schwöre, in diesem Moment wusste ich nicht mal mehr, dass ich einen Freund habe! Rudi, was hat das zu bedeuten? Das macht mir Angst!«
Rudi legte mir beide Hände auf die Schultern und forderte mich auf, erst einmal tief durchzuatmen, was erstaunlich gut wirkte. Große Brüder waren ein wahrer Segen.
»Du bist durcheinander, was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, wie lange du Gefühle für Ben hattest. Solche Momente kann es in jeder Freundschaft geben, du musst nicht gleich alles infrage stellen, erst recht nicht deine Beziehung zu Clemens. Ich verspreche dir, wenn du erst eine Nacht darüber geschlafen hast, siehst du
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