Flaschendrehen: Roman (German Edition)
holte mein Weihnachtsgeschenk aus seiner Tasche. Schnell zog ich meins für ihn ebenfalls hervor, und gleichzeitig machten wir uns daran, die Geschenke zu öffnen.
Ungeduldig entfernte ich das Papier und traute meinen Augen kaum. Clemens hatte einen Gedichtband für mich drucken lassen, ein Foto meines Gesichtes zierte den Einband, und mit geschwungener Schrift war »Darf ich es wagen …?« als abgekürztes Zitat und als Anspielung auf Gretchen aus dem Faust auf dem Cover eingestanzt.
Meine Haare auf dem Einband waren mit welligen Goldfäden durchwoben worden, die Augen und der Mund farbig betont und etwas erhöht herausgearbeitet, sodass der Einband fast einen plastischen Eindruck erhielt. In dem Band hatte Clemens lauter Gedichte, Textpassagen und Liedtexte abgedruckt, die sich auf uns bezogen. Einige Gedichte waren sogar selbst verfasst, aber auch Rezepte von gemeinsamen Essen, Flugtickets oder Filmzitate von Filmen, die wir gesehen hatten, waren eingefügt, zwischendurch Fotos oder Skizzen, die er gemacht hatte. Der Gedichtband war ein kleines Kunstwerk, atemberaubend schön und wertvoll; ich konnte mich nicht erinnern, je ein so besonderes und liebevoll gestaltetes Geschenk bekommen zu haben, mal vom mundgeblasenen Pendel meiner Eltern abgesehen.
»Das ist so unglaublich schön, mir fehlen die Worte!«
Clemens freute sich sichtlich, einen Volltreffer gelandet zu haben, und bedankte sich für mein Geschenk, das mir auf einmal gar nicht mehr so toll vorkam. Na ja, aber es ging nicht darum, sich gegenseitig zu übertrumpfen, sondern seine Liebe in Gesten und Geschenke zu verpacken, und Clemens schien sich über mein Geschenk sehr zu freuen.
»So, du sagtest vorhin, dass du was Wunderbares zu erzählen hast?«
Clemens stellte sein Glas ab, nahm meine Hände und legte los.
»Ja, stell dir vor. Ich fliege morgen spontan nach Zürich, und von dort aus geht es in die Berge zu einem Managementseminar. Das ist unglaublich spannend. Vor Jahren habe ich das schon mal mitgemacht. Kein Handy, kein Internet, keine Zivilisation, nur eine kleine Gruppe mit Bergführer und Seminarleiter, die sich ohne moderne Hilfe durchschlagen und selbst versorgen muss. Ich kenne Peter, den Seminarleiter. Ein Seminarmitglied ist krank geworden, und er hat mir den freien Platz angeboten. Ich hab sofort zugesagt, normalerweise steht man ewig auf der Warteliste. Gretchen, das musst du unbedingt auch mal machen. Ich sage dir, das ist wie eine Reinigung, eine Meditation! Einfach wunderbar!«
Ich wunderte mich tatsächlich, und zwar dass Clemens solche Seminare gut fand, denn nötig hatte er sie auf keinen Fall, aber er steckte nun mal voller Überraschungen.
Den Rest der Nacht machte ich kein Auge zu, was nicht an Clemens’ Reinigungsabsichten lag, sondern an seiner Leidenschaft. Irgendwie schien Sylvester ihn auch nicht kalt zu lassen, denn in seinen Berührungen schwang etwas fast Wehmütiges mit. Auf alle Fälle spürte ich mich ihm nah wie nie zuvor, und wenn es einen Moment des vollkommenen Verstehens und Gleichklangs zweier Menschen gab, war diese Nacht Beweis dafür.
»Wach auf Augenstern, ich muss bald los.« Sanft streichelte Clemens mir über die Haare, darauf bedacht, mich vorsichtig zu wecken. Neben dem Bett stand eine Tasse mit Breakfasttee, Clemens war, ohne dass ich es gemerkt hatte, aufgestanden und saß in voller Montur am Bettrand.
Ich sah auf die Uhr, es war bereits kurz nach zwei Uhr.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«, beschwerte ich mich schläfrig.
Clemens küsste mich auf die Nasenspitze.
»Weil du den Schlaf dringend gebraucht hast und ich unbemerkt schmutzige Aufnahmen von dir machen konnte, die jetzt jederzeit im Internet für 3,99 die Minute herunterladbar sind.«
Leider war ich noch zu schwach, um ihn zu schlagen, aber für einen Kissenwurf reichte es allemal.
Ich räkelte mich aus dem Bett, warf mir ’nen Bademantel über, verschwand im Bad, schließlich wollte ich Clemens mit frisch geputzten Zähnen verabschieden.
Durch die Badezimmertür hörte ich, wie Clemens Leaving on a jet plane pfiff. Das machte er jedes Mal, bevor er losmusste, ob ihm klar war, welchen Text das Lied hatte? Dass John Denver in der zweiten Strophe sinngemäß sang, »Wenn ich wiederkomme, bringe ich den Ring mit, und wir heiraten«. Ein Verlobungsring wäre ein Geschenk, das ich bestimmt nicht ablehnen würde, und in Zürich gab es doch ein Tiffany-Geschäft.
Clemens’ Koffer stand bereits im Flur, ein Bild, das ich nur
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