Flaschendrehen: Roman (German Edition)
bisher, aber wenigstens habe ich es dann versucht.«
Ein weiterer Grund, weshalb ich Sylvester hasste, alle wurden plötzlich so anders, tiefsinnig oder melancholisch. Ben gesellte sich zu uns und musste lachen.
»Die Fingerhutgeschwister unter sich. Habt ihr eure schwierige gemeinsame Kindheit gewälzt, oder weshalb guckt ihr so trüb drein?«
Sehr witzig, das musste gerade Ben, die staatlich geprüfte Stimmungskanone und Weltschmerzauskoster, fragen.
»Setzt dich und sag lieber, was deine Vorsätze für dieses Jahr sind«, bedeutete Rudi Ben, sich zu setzen.
Ben nahm sich ein Bier, überlegte kurz und sagte dann: »Mein Vorsatz für dieses Jahr ist: endlich zu leben!«
»Was hast du denn bisher bitte gemacht?«, wollte Rudi wissen. Ben winkte ab und zeigte wieder sein distanziertes »Mir kann keiner was«-Gesicht.
Birgit gesellte sich zu uns in die Küche. Bei Fremden Sylvester zu arbeiten war bestimmt auch keine so tolle Sache.
»Na, wie geht’s dir?«, fragte sie mich und sah mich an, als ob sie nach Schlangenbissen auf meiner Haut suchte.
»Super, im Prinzip super! Ich denke aber viel an das, was du mir gesagt hast.«
Birgit tunkte eine Möhre in den Quarkdip und sagte so leise, dass nur ich es hören konnte:
»Der Wechsel steht kurz bevor, du musst wachsam und stark sein, und verrate nie dein Herz, hörst du? Denk daran, im richtigen Moment loszulassen, verzeihen zu können, und verrate deine Ideale unter keinen Umständen. Wenn du dich daran hältst, wird alles gut werden, aber sei vorsichtig!«
Wo waren wir hier eigentlich? Bei Der Herr der Ringe , oder wieso schwang Birgit eine Rede, die auch Gandalf den drei Hobbits aus dem Auenland mit auf den Weg hätte geben können, zumindest was Pathos und Rätselhaftigkeit betraf. Vielleicht war Birgit aber auch nur bekloppt, und was wir für eine Masche hielten, war eine ihrer multiplen Persönlichkeiten, und keiner merkte es. Anstatt sich in Behandlung zu begeben, sahnte sie mal richtig Kohle ab. Oft sahen die ja geradezu auffällig harmlos aus, dachte ich und beobachtete Birgit, wie sie ihre Möhre aß und sich mit Ben und Rudi unterhielt. Vielleicht, überlegte ich, war sie auch total normal und fand es nur witzig, Menschen wirre Botschaften mitzugeben, worüber sie grübeln konnten. Vielleicht war sie aber auch vom CIA und versuchte mir mit diesen Sätzen einen Code zu überliefern, ich konnte es aber nicht verstehen, weil eine Verwechslung vorlag.
Leila gesellte sich zu uns in die Küche. Sie hatte Mimi ins Bett gebracht, sah ziemlich müde aus und leicht traurig, was daran lag, dass Jakob nicht da war.
»Amüsiert ihr euch gut?«, fragte sie in die Runde, worauf alle nickten. Abgesehen davon, dass wir eine potenzielle verwirrte Attentäterin neben uns sitzen hatten, die wir irgendwann in den Tagesthemen wieder sehen würden, weil sie einen Politiker angefallen hatte, in der festen Überzeugung, die Welt von einem wild gewordenen Klingonen zu befreien, und mein Liebster das neue Jahr in zehntausend Metern Höhe verbrachte, war alles tipptopp.
Kurz nach eins kam endlich ein Anruf von Clemens. Er war zwar gelandet, aber sein Gepäck war nicht aufgetaucht, und er musste zum Gepäckverlustschalter. Es war nicht zu glauben!
Endlich, als ich schon nicht mehr daran glaubte, um halb drei, die ersten Gäste waren bereits gegangen, kam Clemens.
Und wieder einmal wurde sein Erscheinen zu einer Art Erscheinung. Keine Ahnung, warum, aber wenn er, gleich wo, auftauchte, verwandelte sich alles in einem Raum. Alles konzentrierte sich auf ihn. Diese Aufmerksamkeit, die er auf sich zog, ließ sich einfach daran festmachen, dass alle in ihren Gesprächen innehielten und ihn anschauten. So etwas konnte man nicht kaufen, das nannte man Charisma. In Sekundenschnelle hatte er mich mit seinem Lachen wieder da, wo er mich jedes Mal hatte: Ich betete ihn an.
Wir fielen uns in die Arme und hielten uns einfach nur fest. Ich kann gar nicht beschreiben, wie gut es tat, dieses aufregend vertraute Gefühl wieder zu spüren.
»Happy New Year!«, flüsterte er mir ins Ohr und küsste mich. Ja, so konnte das neue Jahr beginnen, mit glückseligem Kribbeln und dem aufregendsten Mann der Welt.
»Lass uns zu dir gehen, ich will dich für mich haben!«, sagte Clemens und sprach mir aus der Seele. Wir verabschiedeten uns, gingen in meine Wohnung nach oben und waren endlich allein! Wie selbstverständlich ging Clemens in der Küche an den Kühlschrank, nahm sich etwas zu trinken und
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