Flaschendrehen: Roman (German Edition)
Nachtisch servierte Clemens ein Stück Torte mit einer kleinen Taube obendrauf. Zum Glück waren die vorherigen Portionen klein gewesen. Nachtisch war für mich seit Kindertagen das Beste am Essen. Lieber verzichtete ich auf alle Vorspeisen, solange ich am Ende Chocolate Fudge oder Tiramisu bekam.
Clemens, dem mein angetrunkener Zustand nicht entgangen war und der darüber lachte, gab mir einen weiteren Tipp.
»Sieh mal Gretchen, auf der Torte?«
»Eine Taube«, antwortete ich brav, wenn auch leicht verlangsamt.
Die Antwort war richtig.
»Genau, und jetzt überleg mal, Italien und Tauben, was fällt dir dazu ein?«
Das wollte er nicht wissen. Eine Hochzeit in Italien, bei der man Tauben fliegen ließ, war bestimmt nicht das, was er im Sinn hatte.
Verlegen zuckte ich mit den Achseln. Geduldig holte er eine Postkarte aus seiner Tasche. Auf der Postkarte war ein Porträt von Mussolini abgebildet. Okay, jetzt setzte es aber bei Clemens und nicht bei mir aus. Was sollte das bitte heißen? War Clemens heimlich Fascho und versuchte, mit italienischen Gleichgesinnten eine neue Liga zu gründen? Dann aber ohne mich! So weit ging selbst meine Liebe nicht!
Wenn mir nur nicht so schwindelig wäre, dann könnte ich bestimmt klarer denken.
»Bist du Nazi?«
Clemens sah mich erst entsetzt an, dann lachte er lauthals los.
»Okay, für dich gibt’s ab jetzt nur Wasser. Mensch, Gretchen, du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen. Drei Hinweise: Italien, Tauben und Mussolini. Wofür könnte das stehen?«
Italien war klar. Tauben, wo waren in Italien Tauben? Überall, besonders da, wo viele Touristen waren. Auf dem Markusplatz zum Beispiel, da waren sie eine richtige Plage.
»Steht die Taube vielleicht für den Markusplatz?«, wagte ich einen neuen Versuch.
Volltreffer! Clemens’ Gesichtsausdruck sah sehr zufrieden aus.
»Ja, und in welcher Stadt ist der Markusplatz?«
»Na, Venedig«, legte ich nach. Das war ja nun wirklich Pipikram und nicht mal als 500-Euro-Frage bei Wer wird Millionär tauglich.
Aber wie in aller Welt hing das jetzt mit Mussolini zusammen? Denk nach, Gretchen, denk nach!, spornte ich mich an. In welchem Zusammenhang hatte ich Mussolini mit Venedig schon einmal gehört. Hatte er da gelebt? Nein, vielleicht irgendwelche Verträge ratifiziert oder eine wichtige politische Niederlage eingefahren?
Was war denn typisch für Egomanen und Diktatoren an sich, abgesehen davon, dass sie gern vegetarisch aßen? Na klar, sie wollten unvergänglich sein, etwas Bleibendes schaffen, sich selbst ein Denkmal setzten. Und wie machte man das am besten? Indem man irgendein Gebäude baut.
Plötzlich machte es klick.
»Ich hab’s!«, rief ich erfreut. Clemens sah mich gespannt an.
»Es geht um die Biennale in Venedig, stimmt’s? Mussolini hat in den Dreißigern auf dem Lido neben dem Casino und dem Pala Galileo den Festivalpalast gebaut und mit der Biennale das erste Filmfestival der Welt gegründet!«
Tja, Herr Jauch, da staunen Sie, was? Die Einemillionfrage ohne Publikums- oder Telefonjoker gelöst.
Anstatt zu antworten ging Clemens zum Kühlschrank, holte eine Flasche Taittinger heraus und ließ den Korken knallen.
»Ja, das ist des Rätsels Lösung. Wir beide fliegen in genau zwei Wochen nach Venedig zur Biennale. Marion hat uns bereits akkreditiert und im Hotel des Bains eingebucht.« Er hielt mir ein Glas zum Anstoßen hin.
Sprachlos, ich war sprachlos, und es lag nicht an der alkoholbedingt verlangsamten Motorik. Die Biennale war mit Abstand mein Lieblingsfestival. Für die Film ab hatte ich jedes Jahr hingedurft, um zu berichten, für eine reine Filmzeitschrift und zudem eine der renommiertesten war das selbstverständlich.
Bei der Phosphor deckte der Filmteil nur eine Sparte von mehreren ab. Zwar nahm er etwa ein Drittel des Heftes ein, aber ich war mir nicht sicher gewesen, ob wir Festivals besprechen würden, und nachfragen hatte ich mich nicht getraut, man wollte ja nicht gleich als Rosinenpicker auffallen, auch wenn die Biennale wirklich Arbeit bedeutete. Wenn man es richtig machen wollte, musste man während des Festivals drei Filme pro Tag schauen, um alles, was im Wettbewerb lief, gesehen zu haben – und um am Ende keine unliebsame Überraschung zu erleben, weil ein Film gewann, den man verpasst hatte.
Das alles spielte im Moment aber keine große Rolle. Vielmehr musste ich daran denken, dass ich mit Clemens im Hotel des Bains wohnen würde, dem schönsten und ehrwürdigsten Hotel auf
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