Flatline
Tür öffnete, sah er den Zeitungsboten. Der Rentner lag unter seinem Fahrrad und strampelte wild um sich. Die schweren Seitentaschen hatten sich beim Sturz offenbar vom Fahrrad gelöst. Etliche Exemplare der Tageszeitung lagen auf dem frischen Schnee verteilt. Jagger nutzte die Gelegenheit. Der Boxerrüde drängte sich an Joshuas Beinen vorbei ins Freie. Den letzten halben Meter rutschte er mit abgewinkelten Pfoten. Auge in Auge stand er dem Boten gegenüber. Dieser sah perplex in Jaggers faltiges Gesicht. Spontan beschloss Jagger, dem verunglückten Zeitungsmann tröstend mit der Zunge übers Gesicht zu gleiten. Angeekelt sprang der Rentner hoch, verhedderte sich dabei mit seinem linken Fuß in der Kette und fluchte erneut wie ein Rohrspatz. Joshua entschuldigte sich höflich, drückte dem Mann zwanzig Euro Schmerzensgeld in die Hand und holte die Schneeschippe aus dem Keller. Von dem Lärm war Janine wach geworden. Im Nachthemd stand sie im Türrahmen.
»Was hat Jagger gemacht?«
Joshua sah seinem im Schnee tobenden Hund hinterher und grinste.
»Nichts. Er wollte nur helfen.«
Um halb acht kam er ins Büro. Karin und Daniel erwarteten ihn bereits. Es roch nach frisch aufgebrühtem Kaffee und Brötchen. Daniel war damit beschäftigt, einen winzigen Fleck aus der Hose zu waschen. Er hatte die Brötchen mit Gurken- und Tomatenscheiben belegt. Dabei war ein Tröpfchen Tomatensaft auf die Hose gelangt.
Karin erzählte Joshua von der Pressekonferenz um zehn Uhr. Der Leiter der Uniklinik war bereits bestens eingewiesen. Er versprach, mitzuspielen.
»Was hast du Schorndorf erzählt?«
Karin deutete auf ihren vollen Mund. Ihre Augen glänzten schelmisch.
»Dass die Tochter eines Arztes der Uniklinik entführt worden ist. Stimmt doch, oder?«
»Der wird toben.«
»Dann ist er wenigstens in seinem Element.«
Der Presseraum des LKA war bis auf den letzten Platz besetzt. Ein Kamerateam des Lokalfernsehens sorgte für grelle Beleuchtung. Hinter der Tischreihe am Kopfende saßen Karin, Joshua, Rafael Gamerschlag, sowie Professor Doktor Karl Ebersbach und Schorndorf, der die Medienvertreter mal wieder äußerst geschwollen begrüßte. Mit fortschreitender Dauer der Ansprache gähnten einige Gäste demonstrativ. Nach endlos erscheinenden Minuten übergab der Leiter das Wort an Karin Seitz. Die Ermittlerin ließ ohne lange Vorreden die Katze aus dem Sack.
»Wir haben Sie deshalb so kurzfristig eingeladen, weil der Grund äußerst brisant ist. Offenbar hatte Gideon Lambert vor seinem Ableben noch Kontakt mit anderen Menschen. Ein Umstand, der dazu führte, dass mindestens drei Personen aus dieser Stadt mit dem Virus H5N1 infiziert wurden.«
Ein lautstarkes, an Meeresbrandung erinnerndes Raunen ebbte einer Welle gleich durch den Raum. Joshuas Blick galt Schorndorf. Sein Vorgesetzter lockerte den Krawattenknoten. Die leichte Bräune entwich seinem Gesicht, wurde von einem milchigen Weiß ersetzt. Stimmengewirr hallte von allen Seiten gleichzeitig nach vorne. Blitzlichter flammten auf. Schorndorf erhob sich. Mit einem flüchtigen Seitenblick feuerten seine Augen Giftpfeile in Richtung der Ermittler.
»Bitte, meine Herrschaften …«
Seit wann wissen Sie davon? Um welche Personen handelt es sich? Was wird getan, um die Bevölkerung zu schützen? Wird Katastrophenalarm ausgelöst?
Die Wortmeldungen überschlugen sich. Niemand wartete mehr darauf, bis ihm das Wort erteilt wurde. Alle gierten nur noch nach der Sensation. Schorndorf wirkte angeschlagen. Er verfügte über keinerlei Informationen. Die Angst vor Fragen an seine Person stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hastig gab er das Wort an Karin, diese wiederum gab an Professor Ebersbach weiter. Der Leiter der Uniklinik versuchte, die Gemüter abzukühlen. Er dämpfte das Szenario und versprach, dass alle Kontaktpersonen der infizierten Patienten bereits untersucht würden. Eine weitere Verbreitung der Vogelgrippe wollte er nicht ausschließen, beurteilte die Chance aber wohlwissend äußerst gering. Als Schorndorf zehn Minuten später auf ein Zeichen Karins die Pressekonferenz beendete, drohte die Situation zu eskalieren. Wild durcheinander, ohne die geringste Wahrung von Höflichkeiten, stürmte die Meute das Podium. Dutzende von Mikrofonen wurden dem Behördenleiter in einem unzivilisierten Gerangel unter die Nase geschoben. Die anderen nutzten das Interesse an Schorndorf, um relativ problemlos durch die Hintertür den Presseraum zu verlassen.
Karin und
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