Flatline
»Frau Grunert, wir haben noch ein paar Fragen.«
Nach einem tiefen Seufzer führte sie ihre Besucher in das kleine Zimmer in der Mitte des Flures. Karin und Joshua setzten sich ihr gegenüber auf zwei Schemel. Der Geruch von Medikamenten und kaltem Essen war erdrückend. Karin suchte vergebens nach einem Fenster.
»Frau Grunert«, begann Joshua, »steht die Intensivstation unter ständiger Beobachtung?«
Der zweifelnde Blick der Krankenpflegerin wanderte von Joshuas Gesicht langsam zu Karin und wieder zurück.
»Ja«, antwortete sie endlich, »falls Sie ihren Freund besuchen möchten, sollten Sie sich allmählich mal an die Besuchszeiten halten und nicht immer in der Nacht kommen. Die Zeiten gelten übrigens auch für Polizisten und Köche. Oder sind Sie immer noch auf der Suche nach Ihrem Doktor Rosenfeld?«
»Rosenbaum. Nein, der ist inzwischen ermordet worden.«
Frau Grunert schluckte. Nachdenklich strich sie durch ihre gelblichblassen, spröden Haare.
»Frau Grunert«, übernahm Karin, »wer vom Personal ist denn im Augenblick in der Intensivstation?«
»Niemand. Ich bin doch hier.«
Karin und Joshua tauschten einen Blick. Die Krankenschwester wurde sichtlich nervös.
»Also bewachen müssen wir niemanden. Das sind ausnahmslos Schwerstkranke. Von denen läuft keiner weg.«
Ihre Stimme wurde trotzig. Joshua reichte es.
»Sie achten peinlich genau auf die Einhaltung der Besuchszeiten«, Joshua erhob die Stimme, »aber dass dort ein falscher Arzt hineingeht, von unserem Kollegen eine Blutprobe entnimmt und anschließend seelenruhig verschwindet, bekommen Sie nicht mit. Schöne Zustände sind das hier. Weiß ihr Chef davon?«
Ihre Augen funkelten. Sie versuchte offenbar, ihre Wut mit Kooperationsbereitschaft zu überdecken. Es gelang ihr nur halbwegs.
»Also schön. Was wollen Sie?«
Joshua stand auf und lief unruhig in dem kleinen Zimmer umher. Die resolute Frau gewährte ihm einen Wunsch, den er nun nicht mehr hatte. Fahnenbruck hatte also unbehelligt ein- und ausgehen können. Ein Komplize war überhaupt nicht erforderlich gewesen.
»Wie geht es denn unserem Kollegen?«, vernahm er Karins Stimme.
Als ob jetzt alles egal wäre, öffnete die Krankenschwester die Tür eines Metallschrankes, zog eine Zigarette aus einer altmodischen Handtasche und zündete sie an.
»Er liegt im künstlichen Koma. Für noch eine Operation reichen seine Kräfte nicht mehr. Wir geben ihm blutstillende Medikamente und Vitaminlösungen. Möchten Sie zu ihm?«
»Später. Ist Doktor Mwandala noch im Dienst?«
Sie blies eine blaue Wolke in den Raum, hob bedeutungsvoll die Augenbrauen.
»Dienst hat er schon seit einer Stunde nicht mehr.«
»Aber er ist noch hier?«
»Vor fünf Minuten saß er noch in seinem Büro. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Doktor.«
»Vielleicht muss er noch was erledigen«, Karin fand es nicht ungewöhnlich, dass ein Arzt Überstunden machte. Frau Grunert schüttelte den Kopf.
»Er sitzt einfach nur da. Irgendwie apathisch. Man sieht es einem Farbigen ja nicht so an, aber ich glaube, er hat geheult.«
Als Karin und Joshua das kleine Büro des Stationsarztes betraten, hob dieser den Kopf zu einem flüchtigen Gruß. Die Augen wirkten glasig, das Licht der Deckenlampe spiegelte sich in den schwarzen Pupillen. Eine dünne Ader leuchtete rot in der Iris des rechten Auges. Auf seinem Gesicht verteilt glänzten kleine, feuchte Perlen. Karin trat einen Schritt heran, ihr Blick richtete sich auf die Hände Mwandalas. Mittig zwischen den hellen Innenflächen hielt er das Bild eines kleinen Mädchens. Er hielt es so behutsam, als habe er Angst, es könne zerbrechen. Als er Karins Interesse bemerkte, legte er es verdeckt auf den Tisch.
»Ihre Tochter?«
Doktor Mwandala nickte ohne Karin anzusehen.
»Ist sie … krank?«
Mwandala schwieg. Karin glaubte, ein leichtes Kopfschütteln bemerkt zu haben. Plötzlich ging ein Ruck durch den Mediziner. Er sprang hoch und stellte sich den Polizisten gegenüber. Dunkle Wolken zogen vor seine Augen.
»Was wollen Sie von mir? Mein Dienst ist beendet.«
»Wir wollten uns nach unserem Kollegen erkundigen, aber wenn Sie bereits Feierabend haben ...«, Joshua zuckte hilflos mit den Schultern. Mwandala ging zwischen den beiden hindurch ans Fenster. Wortlos betrachtete er die wirbelnden Schneeflocken. Seine Schultern hingen kraftlos herab, der Rücken beugte sich demütig vor. Vor ihnen stand eine traurige Figur, ein Mann, den Joshua noch vor wenigen Minuten
Weitere Kostenlose Bücher