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würde ich sagen.«
»Wie bitte?«, Joshua konnte es nicht begreifen.
»Der Angeklagte war zur Tatzeit am Tatort. Er verfügt über ein Motiv und es war seine Waffe, aus der die tödlichen Schüsse abgefeuert wurden.«
Priem schüttelte langsam den Kopf. Diese Geste war Wasser auf die Mühle von Doktor Hans Joachim Gruber, den Stachinsky mittlerweile als Rechtsanwalt hinzugezogen hatte. Dankbar nahm dieser die Vorlage an.
»Nicht so voreilig, Herr Trempe. Die Tatzeit liegt laut Bericht zwischen ein Uhr und drei Uhr. Das ist ein höchst grobes Raster. In dieser Zeit kann viel passiert sein. Ein Motiv wäre gegeben, falls mein Mandant über die sichere Erkenntnis verfügt hätte, dass Jonas Fahnenbruck für den Tod seines Sohnes verantwortlich war. Genau das konnte der Angeklagte laut seinen Aussagen aber nicht mehr herausfinden. Und was die Waffe betrifft, die mein Mandant Ihnen, nebenbei bemerkt bereitwillig, ausgehändigt hat«, Gruber sah Joshua über den Rand seiner Brille an, »empfehle ich Ihnen den Bericht Ihrer Spezialisten. Dort steht, ich zitiere«, Gruber schlug einen Schnellhefter auf, »verwischte Fingerprints, entstanden möglicherweise dadurch, dass der Täter die Waffe mit einem Handschuh umfasste. Nun frage ich Sie, Herr Trempe, warum sollte mein Mandant eine Pistole, auf der sich überall seine Fingerabdrücke befinden, ausgerechnet zur Ausübung der Tat und nur am Schaft, mit einem Handschuh anfassen?«
Joshua kam es vor, als würde der Advokat ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Die Argumentation konnte er nur allzu gut nachvollziehen. Stachinsky dürfte nach der Entführung der kleinen Kenyetta ohnehin aus dem Rennen sein.
»Sie haben recht. Ich möchte Herrn Stachinsky allerdings bitten, die Stadt in den nächsten drei Tagen nicht zu verlassen.«
Gernot Priem blickte ihn erstaunt an. Er hatte offenbar mit mehr Gegenwehr von Joshua gerechnet. Schließlich gab er seinem Wunsch nach. Stachinsky nickte. Joshua wunderte sich, seiner Gestik keinerlei Erleichterung anzusehen.
Als er Stachinsky fortgehen sah, schlug Joshua sich vor die Stirn, als wolle er seinen Verstand strafen, ihm diesen Einfall erst jetzt beschert zu haben. Sofort rannte er los und stoppte Stachinsky.
42
In der dunklen Sonnenbrille des Besuchers spiegelte sich die Zufriedenheit des Geschäftsführers. Mit der Fernbedienung würgte er Chris Reas sanfte Stimme ab. Was eigentlich schade war, denn die Musikeinblendungen hatten heute Morgen Seltenheitswert. Immer wieder sendete der Radiostation neue Berichte zur nationalen Katastrophe, die nach Befürchtungen von im Minutentakt interviewten Experten das Potenzial besaß, weltweite Ausmaße anzunehmen. Zuhörern, die sich erst jetzt einschalteten, blieb der Eindruck verwehrt, dass bisher lediglich drei Menschen mit dem gefährlichen Virus infiziert waren.
»Gute Arbeit, Orlefson.«
Mit einem sanften Nicken deutete der Angesprochene die Selbstverständlichkeit an, mit der er seine Aufträge erledigte.
»Mein Auftrag ist also erfüllt und die letzte Rate somit fällig?«
Sänger kniff das Ende einer Davidoff ab und entzündete sie.
»Was ist mit der Kleinen? Hat sie Sie gesehen?«
Orlefson nickte.
»Was? Ich hatte Sie für einen Profi gehalten!«
Orlefson beugte sich vornüber. Seine Augen wanderten über den Rand der Sonnenbrille.
»Hätte ich sie mit einer Maske über dem Kopf vom Kindergarten abholen sollen?«
Orlefson untermalte die Frage mit einem sarkastischen Lächeln. Sänger schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken.
»Ich regle das schon.«
»Ach ja? Und wie? Etwa mit einer Überdosis Heroin?«
Sänger wurde es heiß. Er stand auf und lief kurzatmig zur Fensterfront. Der Regen verwandelte die Schneedecke auf den Feldern in einen Fleckenteppich. Über die Autobahn huschten Blaulichter. Sänger lockerte den Krawattenknoten und öffnete den obersten Knopf des perlweißen Hemdes. Aus dem Aschenbecher stieg ein dünner, blauer Faden empor und verschwand in dem dichten Nebel unter der Zimmerdecke. Orlefson würde keine Sekunde zögern, ein unschuldiges, fünfjähriges Mädchen umzubringen, dachte der Geschäftsführer. Er sah Lorena vor sich. Für den vierten Geburtstag seiner Enkeltochter im letzten Sommer hatte er den Gartenteich zuschütten lassen und einen riesigen Abenteuerspielplatz im Garten seiner Villa in Siegen errichtet. Sie hatte alle Kinder aus ihrer Kindergartengruppe eingeladen. Ihre lachenden Augen am
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