Flavia de Luce Halunken Tod und Teufel
als wären sie wie geologische Verwerfungen durch die Schichtenbildung der Erdkruste entstanden.
Unten und damit in Reichweite standen die Bücher, die der jetzigen Generation gehörten. Darüber und gerade nicht mehr in Reichweite standen die in viktorianischer Zeit angehäuften Exemplare, und darüber stand bis hoch zur Decke der ganze Plunder, den die georgianischen de Luces hinterlassen hatten: Hunderte und Aberhunderte ledergebundener Bände mit dünnen, wurmzerfressenen Seiten und so winziger Schrift, dass einem die Augen juckten.
Ich hatte schon früher in diesen Schwarten gestöbert, aber bald festgestellt, dass es sich überwiegend um die staubtrockenen Memoiren oder Predigten irgendwelcher Langweiler handelte – allesamt aus der Zeit, in der Mozart noch in Windeln herumgekrabbelt war.
Es war der reinste Friedhof für religiöse Schriften.
Ich würde mich methodisch von oben voranarbeiten, und mir eine Wand nach der anderen vornehmen, erst die Nordwand, dann die Ostwand und so weiter.
Bücher über abtrünnige Geistliche waren bestimmt auf die obersten, unzugänglichsten Bretter verbannt. Abgesehen davon wusste ich selbst nicht so genau, wonach ich suchte.
Ich zog mir die Bibliotheksleiter auf ihren Rollen heran und machte mich mit tastenden Schritten an den schwindelerregenden Aufstieg.
Bibliotheken dieser Größenordnung, dachte ich dabei, sollte
man mit Sauerstoffflaschen ausrüsten, damit die Benutzer nicht höhenkrank werden!
Was mich an Harriet denken ließ, und auf einmal wurde ich todtraurig. Auch Harriet hatte früher diese Leiter erklommen. In ebendiesem Raum war ich seinerzeit auf eins ihrer Chemiehefte gestoßen, das mein ganzes Leben umgekrempelt hatte.
»Mach weiter, Flave!«, ermahnte mich meine innere Stimme energisch. »Harriet ist tot, und du hast viel zu tun.«
Ich kletterte weiter und legte dabei den Kopf schief, damit ich die Titel der Bücher lesen konnte. Zum Glück hatten die älteren Bände vernünftige, sachliche Titel. Die Goldbuchstaben waren so tief in das Leder geprägt, dass sie dreidimensional wirkten und im ewigen Dämmerlicht unter der Decke gut zu lesen waren:
Das Leben des Simeon Hoxey – Anmerkungen zur Septuaginta – Beten und Büßen – Gedanken über die Göttlichkeit – Die Astronomischen Prinzipien der Natur- und Offenbarungsreligionen – Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman – Polykarp von Smyrna – und so weiter und so fort.
Gleich darüber stand Hydraulik und Hydrostatik, zweifellos eine Hinterlassenschaft von Plätscher-Lucius de Luce. Ich zog das Buch aus dem Regal und schlug es auf. Auf dem Vorsatzblatt prangte Lucius’ Exlibris: das Wappen der Familie de Luce und darunter sein in überraschend kindlicher Schrift gekrakelter Name. Hatte er das Buch als kleiner Junge geschenkt bekommen?
Sonst war das Vorsatzblatt dicht an dicht mit Berechnungen beschrieben: Summen, Winkel, algebraische Gleichungen waren eilig und kaum leserlich hingekritzelt. Außerdem war das Buch wellig, als wäre es nass geworden.
Zwischen die Seiten war ein gefaltetes Papier gesteckt, das sich, als ich es glattstrich, als handgemalte Landkarte erwies, und zwar eine Karte, wie ich sie noch nie gesehen hatte.
Sie bestand aus lauter verschieden großen Kreisen, die miteinander
verbunden waren, teils mit geraden Strichen, teils mit verschlungenen Linien. Manche Linien waren dick, andere dünn. Manche waren einfach, andere doppelt gezogen, und einige wenige waren in unterschiedlichen Mustern schraffiert.
Zuerst dachte ich an eine Eisenbahnkarte – vielleicht der Plan für eine ehrgeizige Erweiterung der Haltestelle Buckshaw, die ganz in der Nähe lag und an der früher einmal Züge gehalten hatten, Passagiere ausgestiegen und Güter für das Herrenhaus ausgeladen worden waren.
Erst als ich ganz unten den Umriss des künstlichen Sees erkannte und dann den unverwechselbaren Umriss von Buckshaw selbst, begriff ich, dass es sich nicht um eine Landkarte handelte, sondern um Lucius’ Originalplan für seine unterirdischen Wasserleitungen.
Interessant, dachte ich, aber nur am Rande. Ich steckte den Plan ein, um mich später damit zu beschäftigen, und hielt wieder nach Büchern Ausschau, in denen die Humpler erwähnt sein könnten.
Predigten für Seeleute – Gottes Plan für die Karibischen Inseln – Nachlass des Alexander Knox, Wohlgeb. …
Und auf einmal stand es direkt vor mir: Dissenters – Glaubensabweichler in England!
Ich muss schon sagen – das
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