Flavia de Luce Halunken Tod und Teufel
Werk war eine Offenbarung!
Ich hatte eine langweilige Aufzählung von Weltuntergangspredigern erwartet, aber mir tat sich eine wahre Schatzkiste voller Intrigen, Verleumdungen, Eitelkeiten, Entführungen, mitternächtlicher Fluchten, Hinrichtungen, Verstümmelungen, Verrat und Zauberei auf.
Bei jedem größeren grausamen Blutvergießen in der englischen Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts hatte garantiert ein religiöser Abweichler dahintergesteckt. Ich nahm mir vor, ein paar dieser Bände mitgehen zu lassen und mir auf meinem Zimmer ein paar schaurig-schöne Lesestunden zu gönnen. Sie lasen sich bestimmt spannender als Der Wind in
den Weiden, das schon seit Weihnachten auf meinem Nachttisch lag. Tante Felicity hatte es mir geschickt, weil sie es angeblich für eine Abhandlung über körperliche Züchtigungen hielt.
Mit den Glaubensabweichlern in der Hand, stieg ich die Leiter wieder hinunter und ließ mich in den gepolsterten Ohrensessel fallen, den sonst Daffy besetzt hielt.
Weil es kein Inhaltsverzeichnis gab, war ich gezwungen, das ganze Buch durchzublättern und den Text nach dem Wort »Humpler« zu durchforsten. Dabei gab ich mir größte Mühe, mich nicht allzu sehr von den Gewaltschilderungen in diesem frommen Werk ablenken zu lassen.
Erst gegen Ende des Buches fand ich, wonach ich gesucht hatte. Aber dann, auf einmal, war es da, ganz unten auf einer Seite, in einer Fußnote, die mit einem zerquetschten Sternchen markiert und in einer wunderlichen altmodischen Schrift gehalten war.
»Die Unsitte der Kindstaufe greift einen primitiven religiösen Brauch auf, eine Verirrung aus dem zweiten oder dritten Jahrhundert nach Christus. Dieser Brauch wird oft verfälscht und entstellt, wie zum Beispiel bei einer gewissen Sekte, die als ›Humpler‹ bekannt ist. In deren Sitte, Kinder an den Fersen hochzuheben und mit dem Kopf in fließende Gewässer zu tauchen, hat sich der griechische Mythos von Achilles auf absurde, ja barbarische Weise erhalten.«
Mrs Mullet hatte recht gehabt!
27
M it den Glaubensabweichlern unterm Arm, flitzte ich die Treppe zum Ostflügel hoch.
»Hör dir das an!«, sprudelte ich los, als ich in mein Zimmer stürmte. Porcelain saß noch genauso da wie vorhin und starrte mich an, als sei ich eine entsprungene Irre.
Ich las ihr die Fußnote zur Kindstaufe vor, und meine Worte überschlugen sich.
»Na und?«, fragte sie unbeeindruckt.
»Mrs Bull hat gelogen! Ihr Baby ist ertrunken! Sein Tod hat nichts mit Fenella zu tun!«
»Ich weiß gar nicht, wovon du redest«, sagte Porcelain.
Wie auch? Ich hatte ihr nichts von unserem Zusammenstoß mit der wütenden Mrs Bull in der Rinne erzählt. Ich hörte die Frau noch keifen:
»Verschwindet, ihr Zigeuner! Du hast mein Baby geklaut! Komm raus, Tom! Die Zigeunerin steht vor dem Tor!«
Um Porcelain zu schonen, lieferte ich ihr eine Kurzversion der Geschichte vom Verschwinden des Bull-Babys und dem Wutausbruch der Mutter.
Mrs Mullets Freundin hatte ihr erzählt, dass die Humpler ihre kleinen Kinder bei der Taufe an den Füßen hielten, so wie es die Mutter von Achilles bei dessen Taufe im Unterweltfluss Styx getan hatte. Mrs Mullet hatte es zwar nicht ganz so ausgedrückt, aber das hatte sie gemeint.
»Wie du siehst«, wiederholte ich triumphierend, »hat deine Großmutter nichts mit dem Verschwinden des Babys zu tun.«
»Natürlich nicht«, meinte Porcelain spöttisch. »Oma ist eine harmlose alte Frau, keine Kindesentführerin. Du hast doch nicht etwa an das Ammenmärchen geglaubt, dass Zigeuner kleine Kinder stehlen?«
»Quatsch«, sagte ich entrüstet, dabei hatte ich natürlich geglaubt, was jedem Kind in England eingetrichtert wurde.
Porcelain sah schon wieder beleidigt aus, und ich wollte nicht noch einen Wutanfall riskieren, weder auf ihrer noch, was schlimmer gewesen wäre, auf meiner Seite.
»Du meinst diese Rothaarige, oder?«, brachte sie das Gespräch unvermittelt wieder auf Mrs Bull. »Die an dem Hohlweg wohnt?«
»Ebendie!«, antwortete ich. »Woher weißt du das?«
»Ich habe so jemanden … dort rumschleichen sehen«, wich sie aus.
»Wo denn?«
»Da in der Gegend.« Sie sah mich herausfordernd an.
Die Erkenntnis traf mich wie eine Ohrfeige.
»Dein Traum!«,rief ich. »Du hast von Mrs Bull geträumt, wie sie im Wohnwagen an deinem Bett gestanden hat, stimmt’s?«
Na klar! Wenn Fenella tatsächlich in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken konnte, und ihre Tochter Lunita sogar das Luftfahrtministerium
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