Flavia de Luce Halunken Tod und Teufel
hinauf.
»Die Sache ist die«, sagte Vater, »dass ihr Mädchen einfach nicht verstehen wollt …«
Er hatte völlig recht. Wir konnten mit seiner Welt nichts mehr anfangen, und er nichts mit unserer.
Er lebte in einer Konfettiwelt, in einem bunten Universum aus königlichen Profilansichten und Landschaftsbildern auf klebrigen Papierstückchen, in einer Welt der Pyramiden und Schlachtschiffe, der zierlichen Hängebrücken in entlegenen
Winkeln der Welt, der Hafenanlagen, Leuchttürme und der Köpfe von Berühmtheiten. In einem Wort, Vater war Briefmarkensammler, beziehungsweise »Philatelist«, wie er sich selbst zu nennen pflegte und auch von anderen genannt werden wollte.
Er verbrachte seine ganze Zeit (außer wenn er schlief) damit, durch eine Lupe auf Papierschnipsel zu starren und Fehldrucken nachzujagen. Die Entdeckung eines mikroskopisch feinen Risses in einer Druckplatte, der ein ungewolltes Haar auf Königin Victorias Kinn gezaubert hatte, löste bei ihm Begeisterungsstürme aus.
Im ersten Überschwang wurde ein offizielles Foto angefertigt. Vater holte seine uralte Plattenkamera aus der Abstellkammer und setzte sie in seinem Arbeitszimmer auf ein Stativ. Die Kamera war mit einem besonderen Objektiv namens »Makrolinse« ausgestattet, mit dem man eine Nahaufnahme des jeweiligen Exemplars anfertigen konnte. Entwickelte man dieses Foto, konnte man ein großes Bild davon herstellen, das eine ganze Buchseite füllte. Wenn Vater mit den Abzügen hantierte, wehten oft Ausschnitte des Schlachtschiffs Pinafore oder des Plakats zu Die Gondolieri wie Flüchtlinge durch unser Haus.
Es folgte die schriftliche Auswertung, die er an den British Philatelist oder ähnliche Fachzeitschriften schickte. Diese Phase war von einer gewissen Reizbarkeit begleitet. Vater brachte jeden Morgen ganze Stöße Schreibpapier an den Frühstückstisch mit und füllte ein Blatt nach dem anderen mit seiner winzigen Handschrift.
Er war wochenlang nicht ansprechbar, bis er das letzte Wort – beziehungsweise die letzten Sätze – zum Thema »Kinnhaar der Königin« formuliert hatte.
Einmal, als wir auf dem Südrasen lagen und in das blaue Himmelsgewölbe eines vollkommenen Sommertages blickten, hatte ich Feely meine Überlegung anvertraut, dass sich Vaters Suche nach Unvollkommenheit nicht unbedingt auf Briefmarken
beschränkte, sondern sich manchmal auch auf seine Töchter erstreckte.
»Halt dein dreckiges Mundwerk!«, hatte Feely mich angefahren.
»Die Sache ist die«, wiederholte Vater jetzt, »dass ihr Mädchen anscheinend den Ernst der Lage nicht begreift.«
Damit meinte er in erster Linie mich.
Feely hatte natürlich gepetzt, und die Geschichte, wie ich eine von Harriets scheußlichen viktorianischen Broschen verdunstet hatte, war so munter über ihre Lippen geplätschert wie ein plapperndes Bergbächlein.
»Du hattest kein Recht, die Brosche aus dem Ankleideraum deiner Mutter zu entwenden«, sagte Vater und richtete den kalten blauen Blick auf meine Schwester.
»Ich wollte die Brosche am Sonntag in der Kirche tragen, um Dieter zu beeindrucken«, sagte Feely. »Es tut mir leid. Ich hätte dich erst um Erlaubnis fragen müssen.«
Es tut mir leid? Hatte ich mich verhört? Eher tanzte am Himmel der Mond mit der Sonne Walzer, als dass eine meiner Schwestern sich entschuldigte. So etwas war ja noch nie vorgekommen!
Bei »Dieter« handelte es sich um Dieter Schrantz von der Culverhouse Farm, einen ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen, der nach dem Waffenstillstand beschlossen hatte, in England zu bleiben. Feely hatte ein Auge auf ihn geworfen.
»Allerdings«, sagte Vater. »Du hättest mich erst fragen sollen. «
Er wandte sich wieder mir zu. Seine Lider verdeckten die Augen fast zur Hälfte, wodurch er noch melancholischer aussah als sonst.
»Flavia«, sagte er mit matter Stimme, die mich schmerzlicher traf als die spitzeste Waffe.
»Ja?«
»Was soll ich bloß mit dir machen?«
»Mir tut es auch leid, Vater. Ich wollte die Brosche nicht kaputt machen. Sie ist mir runtergefallen, und ich bin aus Versehen draufgetreten. Sie war bestimmt sehr alt, so morsch wie sie war!«
Vater zuckte kaum merklich zusammen und bedachte mich mit einem dieser Blicke, die besagten, dass ich ein Thema angesprochen hatte, das hier und jetzt nicht zur Debatte stand. Er seufzte abgrundtief, und sein Blick wanderte durchs Fenster auf die Hügel und verlor sich.
»War’s schön in London?«, fragte ich zaghaft. »Dein Besuch auf der
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