Flavia de Luce Halunken Tod und Teufel
verschworen und mich die Wahrsagerin ganz vergessen lassen.
Ich sprang aus dem Bett und staunte nicht schlecht, dass ich noch angezogen war. Ich war wohl wirklich todmüde gewesen!
Mit den Schuhen in der Hand schlich ich die geschwungene
Treppe zur Eingangshalle hinunter. Mitten auf dem schwarzweiß gefliesten Boden blieb ich stehen und lauschte. Für einen Beobachter auf einer der Galerien hätte ich vermutlich wie ein Bauer auf einem unheimlichen riesigen Schachbrett ausgesehen.
Ein Bauer? Pah, Flavia! Gib’s doch zu – mit der Figur des Bauern würdest du dich nie und nimmer zufriedengeben!
Im Haus war alles still. Vater und Feely schliefen bestimmt tief und fest und träumten: Vater von perforierten Papierstückchen und Feely von einem Schloss, das ganz und gar aus Spiegeln bestand, in denen sie sich selbst immerzu und aus allen erdenklichen Blickwinkeln bewundern konnte.
Am anderen Ende des Westflügels war Daffy bestimmt noch wach und schaute sich Gustave Dorés Stiche in Gargantua und Pantagruel bei Kerzenschein an. Ich hatte die dicke, in Kalbsleder gebundene Schwarte unter ihrer Matratze entdeckt, als ich ihr Zimmer nach einem Päckchen Kaugummi filzte, das ein amerikanischer Soldat Feely geschenkt hatte. Feely war ihm eines Morgens begegnet, als sie ins Dorf zur Post wollte und der Soldat unvermittelt auf einem Zauntritt gesessen hatte. Er hieß Carl und stammte aus St. Louis in den USA. Er machte ihr weis, sie sähe aus wie die Zwillingsschwester von Elizabeth Taylor in Kleines Mädchen, großes Herz. Feely war noch eingebildeter als sonst nach Hause gekommen und hatte die Kaugummis, wie sie es immer mit derlei Aufmerksamkeiten machte, unter ihrer Unterwäsche versteckt. Daffy hatte ihr das Päckchen gemopst. Und ich wiederum ihr.
Wochenlang ging es nur »Carl dies« und »Carl das«, und Feely schwatzte in einem fort vom schlammigen Mississippi, von seiner Länge, seinen Biegungen und Windungen, und wie man den Namen richtig buchstabierte, ohne sich lächerlich zu machen. Man bekam schon den Eindruck, als hätte sie den Fluss eigenhändig geplant und angelegt, wobei ihr Gott wie ein ungeschickter Hilfsarbeiter vom Ufer aus zugeschaut hatte.
Bei dieser Vorstellung musste ich grinsen.
Im selben Augenblick hörte ich etwas: ein metallisches Klick.
Ich stand stocksteif da und versuchte das Geräusch zu orten.
Es kam aus dem Salon, dachte ich. Barfuß, wie ich war, konnte ich mich nahezu geräuschlos bewegen und dabei noch auf alle anderen Geräusche lauschen. Oft verfluchte ich mein überfeines Gehör, das ich von Harriet geerbt habe, doch diesmal war ich froh darüber.
Ich schlich im Schneckentempo durch den Korridor, als plötzlich ein Lichtschein unter der Salontür aufflackerte. Wer hält sich denn um diese Uhrzeit dort auf? Wer es auch sein mochte, es war ganz gewiss kein de Luce.
Sollte ich um Hilfe rufen oder den Eindringling selbst zur Rede stellen?
Ich drehte den Knauf unendlich langsam um und schob die Tür auf – vielleicht war das leichtsinnig, aber schließlich befand ich mich in meinem eigenen Haus. Sollten etwa Daffy und Feely den Ruhm einheimsen, den Einbrecher gestellt zu haben?
Da meine Augen auf die Dunkelheit eingestellt waren, blendete mich das Licht der alten Petroleumlampe, die für eventuelle Stromausfälle bereitstand, und ich konnte zunächst niemanden entdecken. Doch dann sah ich einen Fremden in Gummistiefeln vor dem Kamin hocken und sich auf einen der beiden Kaminböcke stützen.
Als er nach oben in den Spiegel blickte und mich in der offenen Tür stehen sah, blitzte das Weiße in seinen Augen auf.
Sein langer Mantel und sein roter Schal flatterten, als er aufsprang und sich nach mir umdrehte.
»Mensch, Mädel, hast du mich erschreckt! Mir ist ja fast das Herz stehengeblieben!«
Es war Brookie Harewood.
4
D er Mann hatte getrunken, das fiel mir sofort auf. Seine Fahne wehte bis zu mir herüber. Dazu der kräftige Duft, der all jene begleitet, die einen Fischerkorb mit dem gleichen Stolz tragen wie andere Leute einen festtäglichen Kilt.
Ich zog die Tür leise hinter mir zu.
»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte ich und setzte mein strengstes Gesicht auf.
Dabei dachte ich unwillkürlich, dass Buckshaw in den frühen Morgenstunden allmählich zum Durchgangsbahnhof wurde. Erst vor ein paar Monaten hatte ich nächtens einen hitzigen Streit zwischen Vater und Horace Bonepenny belauscht. Bonepenny ruhte inzwischen auf dem Friedhof, aber hier war schon der
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