Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
Farbabweichungen und anderen Unterschieden, die das ungeübte Auge gar nicht wahrgenommen hätte. Sein schönstes Geschenk, erzählte er, sei eine Lupe gewesen, die sein Großvater bei einem Straßenhändler erworben hatte, nachdem er den Ehering seiner eigenen Mutter für einen Shilling im Pfandhaus versetzt hatte.
Jeden Tag auf dem Weg zur Schule und wieder nach Hause fragte der Junge bei möglichst vielen Läden und Büros nach, ob er weggeworfene abgestempelte Umschläge haben und im Gegenzug den Bürgersteig fegen dürfe.
Nach und nach entwickelte sich aus dem ›Buntpapier‹ der Grundstock einer Sammlung, die einen König hätte neidisch machen können, und noch als er längst zum Rektor von Greyminster aufgestiegen war, hütete er die kleine Lupe von seinem Großvater wie einen Schatz.
›Die einfachsten Geschenke sind die schönsten‹, sagte er uns immer.
Der junge Kissing baute auf die in seiner schweren Kindheit erworbene Zähigkeit und hangelte sich von einem Stipendium zum anderen, bis der Tag kam, an dem der alte ›Glöckner‹ mit feuchten Augen miterleben durfte, wie sein Enkel seinen Abschluss in Oxford mit Auszeichnung bestand.
Nun gibt es natürlich jede Menge Sammler, die wider besseres Wissen davon überzeugt sind, dass die wertvollsten Briefmarken die fehlerhaften, beschädigten Exemplare sind, die bei jedem Druckvorgang unweigerlich als Abfallprodukte entstehen, aber das ist ein Trugschluss. Welche Summen diese Scheußlichkeiten auch erzielen mögen, wenn sie auf welchen Wegen auch immer auf den Markt kommen, für den wahren Sammler sind sie wertlos.
Nein, die eigentlichen Raritäten sind solche Marken, die offiziell oder anderswie auch in Umlauf gebracht werden, aber nur in sehr begrenzten Stückzahlen. Manchmal werden etliche tausend Marken ausgegeben, ehe ein Fehler auffällt, manchmal sind es nur ein paar hundert, wenn es nur einem einzelnen Bogen gelingt, das Schatzamt zu verlassen.
Aber in der ganzen Geschichte des Britischen Postministeriums ist es nur ein einziges Mal vorgekommen, dass sich ein Bogen so drastisch von seinen Millionen Artgenossen unterschied. Und das kam so:
Im Juni 1840 hatte ein geisteskranker Kellner namens Edward Oxford zwei Pistolen aus nächster Nähe auf Königin Viktoria und Prinz Albert abgefeuert, als sie in einer offenen Kutsche vorbeifuhren. Gnädigerweise verfehlten die Schüsse ihr Ziel, und die Königin, die damals im vierten Monat schwanger war, blieb unversehrt.
Das fehlgeschlagene Attentat wurde von manchen als Verschwörung der Chartisten interpretiert, andere hielten es für das finstere Treiben des Oranier-Ordens, der danach trachtete, den Herzog von Cumberland auf den englischen Thron zu setzen. An letzterer Theorie war mehr dran, als die Regierung
wahrhaben wollte; vielleicht wollten sie es auch nur nicht zugeben. Oxford büßte für seine Tat, indem er die folgenden vierzig Jahre seines Lebens im Irrenhaus verbrachte - obwohl er bei besserem Verstand als die meisten anderen Insassen und so mancher Arzt zu sein schien. Seine Hintermänner blieben auf freiem Fuß und tauchten in der Großstadt unter. Sie hatten noch andere Pferde am Start.
Im Herbst 1840 wurde ein Druckerlehrling namens Jacob Tingle in der Firma Perkins, Bacon & Petch eingestellt. Überaus ehrgeizig, kletterte er die Karriereleiter in beträchtlichem Tempo empor.
Seine Arbeitgeber wussten allerdings nicht, dass Jacob T ingle eine Figur in einem bitterernsten Spiel war, einem Spiel, das nur seine im Verborgenen agierenden Drahtzieher in vollem Umfang überblickten.«
Wenn mich etwas an der Geschichte überraschte, dann die Art und Weise, wie anschaulich Vater erzählte. Ich sah die Gentlemen mit ihren hohen, gestärkten Krägen und ihren Zylinderhüten, die Damen mit ihren Reifröcken und Hauben förmlich vor mir. Und so, wie die Gestalten in seiner Geschichte zum Leben erwachten, erging es auch Vater selbst.
»Jacob Tingles Auftrag war streng geheim. Er sollte, wie auch immer, einen Bogen, einen einzigen Bogen Penny-Black-Marken drucken und dabei eine leuchtend orangefarbene Druckfarbe benutzen, die man ihm eigens zu diesem Zweck ausgehändigt hatte. Das Farbglas hatte ihm, zusammen mit einem Vorschuss auf seinen Lohn für die Ausführung der Tat, ein Mann mit Schlapphut in einer Kneipe gleich neben dem Friedhof von St. Paul’s übergeben. Der Mann hatte in einer dunklen Ecke der Kneipe gesessen und nur heiser geflüstert.
Sobald er den Bogen heimlich gedruckt
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