Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
mit einem entrückten Ausdruck an, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen.
In den folgenden Tagen fiel mir auf, dass mit ihm eine Veränderung vorgegangen war. Nun war Bony der selbstsichere Zauberer und ich nur noch sein unbedeutender Assistent. Auf einmal redete er ganz anders mit mir und gewöhnte sich eine ziemlich lässige Art an, als hätte es seine frühere Schüchternheit nie gegeben.
Ich kann wohl guten Gewissens behaupten, dass er mich fallen ließ, jedenfalls wirkte es so. Ich sah ihn oft mit einem
älteren Jungen zusammen, Bob Stanley, einem Mitschüler, mit dem ich nie viel zu tun haben wollte. Stanley hatte so ein kantiges Gesicht, wie sie auf Fotos immer anziehend wirken, dabei sind sie eigentlich nur brutal. Wie vorher bei mir, schien sich Bony jetzt etliche Eigenarten Stanleys zuzulegen, ähnlich wie ein Löschblatt die Handschrift von einem Brief aufnimmt. Ungefähr zu dieser Zeit fing Bony auch zu rauchen an und vermutlich auch ein bisschen zu picheln.
Eines Tages merkte ich erschrocken, dass ich ihn eigentlich nicht mehr leiden konnte. Er war nicht mehr derselbe, oder vielleicht war erst jetzt seine wahre Natur zutage getreten, ich wusste es nicht. Manchmal ertappte ich ihn im Unterricht dabei, wie er mich anstarrte. Anfangs mit dem Blick eines alten Mandarins, dann wurde sein Blick sonderbar kalt, reptilienhaft. Ich hatte das Gefühl, als sei mir auf irgendeine unbekannte Weise etwas gestohlen worden.
Aber es sollte noch schlimmer kommen.«
Vater verstummte und ich wartete darauf, dass er weitererzählte, aber er saß einfach nur da und blickte mit ausdrucksloser Miene in den Regen hinaus. Ich hielt es für das Beste, mich still zu verhalten und ihn seinen Gedanken zu überlassen, worum auch immer sie sich drehen mochten.
Aber ich spürte, dass sich in unserem Verhältnis etwas verändert hatte, genau wie es Vater mit Horace Bonepenny ergangen war.
Da saßen wir nun, Vater und ich, in einem kleinen Zimmer eingesperrt, und zum ersten Mal überhaupt führten wir so etwas Ähnliches wie eine richtige Unterhaltung. Wir sprachen beinahe wie zwei Erwachsene miteinander, beinahe wie ein menschliches Wesen mit einem anderen, beinahe wie Vater und Tochter. Und obwohl mir nichts einfiel, was ich hätte sagen können, wünschte ich mir, dass es immer so weitergehen sollte, bis der letzte Stern erloschen war.
Ich hätte Vater gern umarmt, aber ich brachte es nicht über
mich. Schon länger war mir aufgefallen, dass uns de Luces irgendetwas davon abhielt, einander unsere Zuneigung offen zu zeigen, zu sagen: »Ich hab dich lieb.« Es lag uns einfach so im Blut.
Darum saßen Vater und ich steif nebeneinander wie zwei alte Damen beim Kirchenkaffeekränzchen. Ideal war das nicht, aber wir mussten uns damit begnügen.
16
E in Blitz sog alle Farbe aus dem Zimmer, fast gleichzeitig ertönte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Wir zuckten beide zusammen.
»Das Gewitter ist direkt über uns«, sagte Vater.
Ich nickte, um ihm zu versichern, dass wir da beide gemeinsam drinsteckten, und sah mich um. Der hell erleuchtete, würfelförmige kleine Raum mit der nackten Glühbirne an der Decke, der Pritsche und der Stahltür mit dem vor dem Fenster niederrauschenden Regen erinnerte mich an die Kommandozentrale des U-Boots in dem Film Tauchfahrt bei Tagesanbruch. Bei jedem Donnerschlag stellte ich mir vor, dass über unseren Köpfen ein Torpedo detonierte, und auf einmal hatte ich nicht mehr solche Angst um Vater. Zumindest waren wir beide jetzt Verbündete. Ich tat einfach so, als könne uns nichts Schlimmes widerfahren, solange ich still zuhörte und wir uns unauffällig verhielten.
Vater erzählte weiter, als hätte es keine Unterbrechung gegeben.
»Wir entfremdeten uns sehr, Bony und ich. Zwar nahmen wir beide weiterhin an Mr Twinings Magischem Zirkel teil, aber sonst ging jeder von uns seinen eigenen Interessen nach. Ich entwickelte ein Faible für spektakuläre Bühnentricks: zersägte Jungfrauen, zauberte Vogelkäfige weg und so weiter. Natürlich lagen die meisten dieser Nummern jenseits meiner Schuljungenmöglichkeiten, aber irgendwann genügte es mir auch, darüber etwas nachzulesen und mir die Abläufe einzuprägen.
Bony hingegen widmete sich Tricks, die immer größere Fingerfertigkeit erforderten, simple Effekte, die man mit einem geringen Aufwand an Requisiten vor der Nase der Zuschauer ausführen konnte. Er konnte einen vernickelten Wecker aus einer Hand verschwinden und in der anderen wieder
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