Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
Mütze hervorstand, glich einer Scheibe aus Kupferblech
wie die Heiligenscheine in einer bebilderten mittelalterlichen Handschrift.
›Vorsicht, Sir‹, rief Simpkins noch zu ihm hoch. ›Die Ziegel sind locker!‹
Mr Twining schaute auf seine Füße, als erwachte er aus einem Traum und sei verwundert, sich auf einmal dreißig Meter über dem Erdboden wiederzufinden. Er betrachtete die Dachziegel, und einen Augenblick lang hätte man eine Stecknadel fallen hören können.
Dann richtete er sich hoch auf, hielt sich nur noch mit den Fingerspitzen an der Brüstung fest und hob den rechten Arm zum römischen Gruß. Sein Talar umwehte ihn wie die Toga eines alten römischen Kaisers auf den Wällen der Stadt.
›Vale!‹ , rief er. ›Gehabt euch wohl.‹
Erst dachte ich, er sei nur vom Geländer zurückgetreten. Vielleicht hatte er es sich anders überlegt, vielleicht blendete mich auch die Sonne hinter ihm. Aber dann sah ich ihn fallen. Ein Mitschüler erzählte später einem Zeitungsreporter, er habe ausgesehen wie ein gestürzter Engel, aber das stimmt nicht. Er plumpste wie ein Strumpf mit einem Stein drin vom Dach. Poetischer lässt es sich nun mal nicht beschreiben.«
Vater stockte, als suchte er nach Worten. Ich hielt den Atem an.
»Der dumpfe Aufschlag«, sagte er schließlich, »verfolgt mich noch heute bis in meine Träume. Ich habe im Krieg viel gesehen und gehört, aber nicht so etwas.
Er war so ein liebenswerter Mensch, und wir haben ihn umgebracht. Horace Bonepenny und ich haben ihn genauso umgebracht, als hätten wir ihn eigenhändig vom Dach gesto ßen.«
»Aber nein!« Ich griff nach Vaters Hand. »Du hattest überhaupt nichts damit zu tun!«
»O doch, Flavia.«
»Nein!«, wiederholte ich energisch und erschrak selbst ein
bisschen über meine eigene Kühnheit. Redete ich tatsächlich mit meinem Vater? »Du hattest nichts damit zu tun. Horace Bonepenny hat den Rächer von Ulster vernichtet!«
Vater lächelte bekümmert.
»Nein, mein Schatz. Als ich nämlich an jenem Sonntagabend wieder in mein Zimmer kam und die Jacke auszog, entdeckte ich auf meiner Manschette einen klebrigen Fleck. Ich wusste sofort, was die Stunde geschlagen hatte. Als uns Bony im Wohnzimmer des Rektors abgelenkt hatte, indem er uns einen Kreis bilden ließ, hatte er mir heimlich in den Ärmel gegriffen und den Rächer an die Manschette geklebt. Aber warum mir? Warum nicht Bob Stanley? Nun, das hatte seinen guten Grund. Hätte man uns alle durchsucht, wäre die Marke in meinem Ärmel aufgetaucht und Bony hätte lauthals seine Unschuld beteuert. Kein Wunder, dass bei seiner eigenen Durchsuchung niemand die Marke entdeckt hatte!
Und als er mir beim Abschied die Hand schüttelte, hatte er sich die Marke natürlich zurückgeholt. Man darf nicht vergessen, dass Bony ein Meister der Täuschung war, und da ich schon früher sein Komplize gewesen war, war es nur folgerichtig, dass seine Wahl wieder auf mich fiel. Anders konnte es gar nicht sein.«
»Nein!«, sagte ich unbeirrt.
»Doch.« Vater lächelte. »Und meine Geschichte ist auch gleich zu Ende.
Obwohl man ihm nichts beweisen konnte, kam Bony nach den Ferien nicht wieder. Jemand erzählte mir, er sei nach Übersee ausgewandert, um irgendwelchen nachträglichen Unannehmlichkeiten vorzubeugen. Ich kann nicht behaupten, dass mich das überraschte. Ebenso wenig verwunderte es mich, als ich Jahre später erfuhr, dass Bob Stanley, nachdem er von der Medizinischen Fakultät geflogen war, irgendwo in Amerika wieder auftauchte, wo er einen Briefmarkenladen eröffnete, eine dieser Versandfirmen, die in Comic-Heftchen inserieren
und halbwüchsigen Jungen ganze Packen mit Briefmarken zur Ansicht schicken. Der Versandhandel schien jedoch lediglich eine Tarnung für seine unsauberen Geschäfte mit wohlhabenden Sammlern zu sein.
Was Bony betrifft, so habe ich ihn dreißig Jahre lang nicht mehr gesehen. Und dann, erst letzten Monat, bin ich nach London gefahren, zu einer internationalen Briefmarkenausstellung der Königlichen Philatelistischen Gesellschaft; vielleicht erinnerst du dich noch dran. Ein Höhepunkt der Ausstellung war die öffentliche Präsentation einiger erlesener Exemplare aus der Sammlung unseres derzeitigen Königs, darunter der seltene Rächer von Ulster , A A, der Zwillingsbruder von Dr. Kissings Marke.
Ich warf nur einen flüchtigen Blick darauf, denn die Erinnerungen, die die Marke bei mir weckte, waren nicht von der angenehmen Sorte. Es gab noch etliche andere
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