Fleckenteufel (German Edition)
zu tun haben soll, ist mir völlig schleierhaft. Überhaupt fällt mir mal wieder auf, dass Steiß die allerdümmsten Andachten hält. Die Leute schauen auf den Boden und denken entweder gar nichts (Schrader) oder meinen, dass es so muss, sie sind ja nichts anderes gewohnt. Ob sich Pastor Schmidt und Diakon Steiß gelegentlich austauschen? «Das hat mir sehr gut gefallen mit den Schläuchen. Wie sind Sie darauf gekommen?». (Die beiden siezen sich.) Während der Andacht fängt es an zu regnen.
Nach dem Frühstück freie Zeiteinteilung bis zum Mittagessen, das Wetter ist einfach zu schlecht für irgendwas. Ich habe sogar Kaffee getrunken, obwohl ich keinen Kaffee mag. Soll gut für die Verdauung sein. Ich rauche drei Zigaretten nacheinander, nichts, kein Pupsen, kein Grummeln, kein gar nichts, der gesamte Verdauungstrakt ist lahmgelegt.
Ich gehe rüber zu Tiedemanns Zelt. Er liegt auf dem Bett, liest ein Buch und stopft dabei Haribos in sich rein.
«Ey, Tiedemann, was liest du da eigentlich?»
«Gedichte.»
Geil. Er hat uns echt was voraus. Niemand sonst würde zugeben, dass er Gedichte liest, Gedichte sind das Allerletzte. Aber wenn Tiedemann sich für Gedichte interessiert, ist es cool. Er ist Meinungsführer und hat die Macht, das durchzudrücken, er kann alles durchdrücken, wenn er will, und jetzt drückt er eben Gedichte durch.
«Was für Gedichte? Von wem denn?»
«Gedichte, die einer schrieb, bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang. Charles Bukowski.»
«Geil. Wer ist das denn, Charles Bukowski?»
«Der wurde in Deutschland geboren und ist mit zwei Jahren nach Amerika gezogen, nach Los Angeles. Er hat im Gefängnis und im Irrenhaus gesessen und alles Mögliche gearbeitet, Leichenwäscher, Tankwart, Hafenarbeiter, Zuhälter, Postangestellter und so. Mit fünfunddreißig erst ist der zum Schreiben gekommen. So wie der schreibt, so schreibt kein anderer, Schwörung.»
Tiedemann kramt in seinem Koffer – er ist der Einzige von den Jugendlichen, der keine Reisetasche oder einen Rucksack hat, sondern einen Koffer – und holt weitere Bukowski-Bücher heraus: Kaputt in Hollywood, Aufzeichnungen eines Außenseiters, Faktotum, Das ausbruchsichere Paradies.
«Ich kann dir für die Zeit hier eins leihen.»
«Echt? Welches denn zum Beispiel?»
«Ich würd anfangen mit der Geschichte, wo er bei der Post gearbeitet hat, Der Mann mit der Ledertasche . Das ist nicht ganz so hart zum Einstieg.»
Nicht ganz so hart? Ich weiß nicht genau, was er meint, aber hart klingt gut. Obwohl die Landserhefte natürlich auch hart sind irgendwie. Egal, was Tiedemann sagt, ist Gesetz.
«Ja, gut, danke.»
Im Zelt kloppen die drei Spastiker Skat. Die haben bestimmt noch nie was von Bukowski gehört, die dummen Schweine.
Der Mann mit der Ledertasche . Vom ersten Satz an ist die Sache klar. Sagenhaft, so was habe ich noch nie gelesen, ich hatte keine Ahnung, dass es so etwas überhaupt gibt! Wieso hat mir niemand davon erzählt? Ich beschließe, alles von Bukowski zu lesen, der Mann ist ein Genie. Vor Begeisterung krieg ich feuchte Hände, und das will schon was heißen, denn leicht bin ich nicht zu begeistern. Ich interessiere mich in Wahrheit praktisch für nichts. Manchmal tu ich aus Tarnungsgründen so, als ob, aber interessieren tu ich mich in Wahrheit nur für Quatsch wie Mofas und Landserhefte. Es ist natürlich nicht so, dass ich nicht wüsste, was für ein Scheiß Landserhefte sind. Oder Smokie. Mein Musikgeschmack ist nämlich auch der Allerletzte. «Lay Back in the Arms of Someone» war im April eine Woche auf Platz eins, drei Wochen im Mai und nochmal eine Woche im Juni. Das hatte es bisher so auch noch nicht gegeben. Ich weiß, welche Sachen cool sind, und tu so, als ob: «Ja, Grateful Dead, das ist geil.» Und Frank Zappa und Cream und Mothers Finest und Yes.
Egal, Bukowski jedenfalls ist richtig geil, ich bin schon nach einer Stunde auf Seite dreißig, wo ein Mann jeden Tag Bukowski abpasst, damit der unter keinen Umständen den Brief in den Kasten wirft. Und keiner weiß, warum. Echt abgefahren. Endlich gibt es mal eine Schnittmenge zwischen meinem Geschmack und etwas Coolem.
Plötzlich ein Grummeln im Bauch, Zisch-, Modder- und Ploppgeräusche, endlich, endlich, der Bann ist gebrochen! Mit zusammengekniffenen Arschbacken renne ich zur Baracke, schnell schnell, hopp hopp hopp, sonst schließt sich die Rosette wieder, vielleicht für immer. Ich werde die Baracke dichtkacken! In Grund und Boden
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