Fleckenteufel (German Edition)
Handschlag, ein Mädchen läuft sofort aufs Klo, ein paar schneiden Grimassen, und einer spuckt sogar auf den Boden. Von nahem sehen die Jugendlichen nochmal komischer aus. Haus Kolibri ist offenbar eine Klinik oder ein Heim. Die Betreuer führen die Behinderten an die Tische, es sind nämlich Behinderte. Eines der beiden Mädchen, gekleidet wie ein formloses, gallertartiges Etwas, weigert sich. Sie bleibt an der Tür stehen und schaltet im Sekundenrhythmus den Lichtschalter an und aus, jeden Knips begleitet sie mit einem hohen, spitzen Schrei. Das nervt, und peinlich ist es auch. Ein Betreuer redet geduldig auf sie ein, sie soll sich doch zu den anderen setzen. Nix. Ein, aus, ein, aus, ein, aus, da helfen weder Geld noch gute Worte. Er zieht an ihrem Gallertärmel, woraufhin das Mädchen nach ihm tritt und davonläuft, der Betreuer hinterher, Türen knallen, dann verschwinden sie hinter einem dichten Nieselvorhang. Mein Gefühl sagt mir, dass das dauern kann. Fast alle sind nicht nur körperlich, sondern auch geistig behindert. Einer, er ist bestimmt schon zwanzig, hat einen riesigen Eierwasserkopf, gegen den er fortwährend mit seiner flachen Hand schlägt, ein anderer beißt sich in seinem Daumenballen fest. Bei den Mongoloiden kann man überhaupt nicht sagen, ob sie nun fünfzehn oder fünfundzwanzig sind, die Behinderung hat ihr Alter unkenntlich gemacht. Das andere Mädchen trägt eine unförmige Hose, die mit irgendwas gepolstert ist, wahrscheinlich einer Windel. Wohl einer der Gründe dafür, dass es zu müffeln beginnt. Die Behinderten scheinen sich genauso unwohl zu fühlen wie wir. Was um Himmels willen soll das? Na ja, schon klar, Nichtbehinderte und Behinderte machen gemeinsam etwas und tun dabei so, als wäre das die normalste Sache der Welt, was es natürlich nicht ist. Edam und Steiß haben nach Absprache mit den Behindertenbetreuern ein Programm vorbereitet. Geschicklichkeits-, Gedächtnis-, Wahrnehmungs-, Koordinations-, Schreib- und Vertrauensspiele fallen weg; eigentlich alle Spiele fallen weg. Übrig bleiben Fressspiele. Negerkusswettessen. Die Behinderten sind offenkundig noch ausgehungerter als wir und gewinnen. Ein Mongo hört gar nicht mehr auf, sich grunzend die Negerküsse reinzustopfen. Wieso nimmt sie ihm niemand weg. Wir haben doch eh nur so wenig (343 Mark). Als er endlich fertig ist, trommelt er mit seinen stummeligen, wie scheuermittelverätzten Händen auf der Tischplatte. Ein Betreuer redet beruhigend auf ihn ein und wischt ihm den Sabber vom Mund. Der Mongo schnalzt und seufzt und stöhnt, spuckt auf die Tischplatte und moddert mit seinen knotigen Fingern in der trüben Flüssigkeit herum. Niemand sagt oder macht etwas. Im nächsten Spiel stehen Leibniz-Butterkekse im Mittelpunkt: Wir müssen jeweils fünf der staubtrockenen Dinger in uns hineinstopfen, ohne etwas zu trinken. Jeder einzelne Keks hat zweiundfünfzig Zähne, Widerhaken, die sich in der Speiseröhre verhaken. Sieger ist, wer als Erster pfeifen kann. Die Behinderten scheinen nicht genau zu wissen, wie Pfeifen geht, und werden sauer, ohne zu wissen, warum.
Die Erwachsenen sitzen an ihren Tischen und beäugen aus sicherem Abstand das Geschehen, sie haben Angst davor, in die Spiele mit eingebunden zu werden. Nach Negerkuss- und Keksspiel wird es noch trockener und staubiger, denn es folgt das Mehlspiel: Auf einen Tisch wird jeweils dieselbe Portion Mehl gelegt. Jeder Mitspieler muss mit dem Mund das Mehl in ein leeres Marmeladenglas einfüllen. Wer in einer Minute das meiste Mehl in das Glas füllen kann, hat gewonnen. Ich weiß mittlerweile nicht mehr, ob ich die Behinderten oder die Nichtbehinderten bedauernswerter finde. Dem Mongo ist die Speichelmodderei offenbar zu langweilig geworden, zeitlupenhaft gleitet er von seinem Stuhl und robbt, aufgestützt auf beide Ellenbogen, Richtung Erwachsenentische. Ich bin anscheinend der Einzige, der das bemerkt oder bemerken will. Spannend. Die Fressspiele sind vorbei, der dumme Peter verteilt Blasrohre, mit denen wir Papierkügelchen in einen Eimer schießen. Plopp. Daneben. Plopp. Daneben. Plopp. Daneben. Plopp. Daneben. Schrecklich. Furchtbar. Der Mongo hat mittlerweile sein Ziel erreicht und bleibt vor den Fiedlers hocken: «Määääääh.» Gleich nochmal: «Määääääähh.» Fiedlers sind zu dick zum Fliehen. «Määäähh.» Frau Schmidt steht auf, streichelt dem Jungen beruhigend über den Kopf und sagt zu den Fiedlers: «Das ist ein Schaf.» Sie schaut sehr
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