Fleckenteufel (German Edition)
LOS, GIB SCHON HER.
Der Namenlose lässt die Karten fallen und blökt mit sich überschlagender Stimme:
«JETZT REICHT’S ABER ECHT. SAG MAL, MERKT IHR EIGENTLICH NOCH WAS?»
Roland (seine Stimmbruchstimme nachäffend): MERKT IHR EIGENTLICH NOCH WAS, MERKT IHR EIGENTLICH NOCH WAS? KÜMMER DICH DOCH UM DEINEN EIGENEN SCHEISS. JEDER KANN DOCH WOHL SO LAUT, WIE ER WILL!
«ABER NICHT HIER. DANN GEHT DOCH INS ZELT ODER NACH DRAUSSEN, DA KÖNNT IHR BRÜLLEN, WIE IHR WOLLT.»
«DANN SAG DOCH DEM PASTOR BESCHEID. AUSSERDEM SIND WIR SOWIESO FERTIG MIT DEM IDIOTENSPIEL.»
Danach wieder zu den Weibern. Alles genau wie gestern, Roland und Heiko punkten, Tiedemann raucht und fühlt sich wohl, und ich gerate mehr und mehr ins Hintertreffen. Ich überlege, die Geschichte von gestern («Fick misch hädda») zum Besten zu geben und mit meinem genialen Satz (Mundartliches – Sex, Jodeln – Philosophie) zu krönen, entscheide mich nach sorgfältiger Abwägung jedoch dagegen:
1. Es ist seltsam, wenn einer zwei Abende lang durchgehend schweigt und sich dann mit einer Supergeschichte in den Vordergrund spielen will.
2. Was habe ich nachts am Strand verloren?
3. Es ist unsympathisch, auf Kosten anderer zu punkten (außerdem sind die Wöllmanns sehr nett).
Heiko gibt eine langweilige Fußballgeschichte zum Besten: Wie sich zwei Jugendtrainer mal fast geprügelt hätten, haha. Dabei berühren seine Hände beiläufig die von Susanne. Meine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen. Jetzt ist alles nur noch eine Frage der Zeit. Schrecklich. Andererseits: War ja eh klar. Wenn nicht Heiko, wer dann? Wenigstens ist der Bumskaiser Dieter Dorsch abgemeldet.
Leise rieselt der Schnee.
REISE, REISE!
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich doch nochmal zu Hause anrufen sollte, damit mir meine Mutter hinterher keinen Strick aus der Sache drehen kann, zusätzlich zu den vielen anderen Stricken, die in Vorbereitung sind. Besser, ich erledige es gleich nach dem Frühstück, dann hab ich’s hinter mir.
Sie geht nach dem vierten Läuten ran. Statt Vorwürfen endloses Gesabbel. Wie immer. Sie interessiert sich nicht für mich, sie interessiert sich einfach kein Fitzelchen für mich. Nach ein paar Standardfragen (Wie geht’s? Wetter? Hast du Alkohol getrunken?) geht es los. Sie redet und redet. Sie redet und redet und redet. Und redet und redet und redet und redet und hört einfach nicht mehr auf. Irgendwann, so mein frommer Wunsch, hat sie alles erzählt, irgendwann muss sie einfach alles erzählt haben. Mutter: auserzählt. Dann ist gesagt, was es zu sagen gab. Alle Dinge wurden beim Namen genannt, jedes Detail ist erörtert, das gesamte Quasselwasser, das sie im Laufe ihres Lebens getrunken hat, ausgepisst. Ich stelle mir vor, dass es dafür ein konkretes Datum gibt. Den 3. 7. 1979 beispielsweise. Es könnte aber auch ein anderer Tag sein, der 11. 12. 1978 oder der 7. 9. 1978. Je eher, desto besser. Also: Ab dem 7. 9. 1978 gibt es nichts mehr zu sagen, dann kehrt Frieden ein bei uns zu Hause und in der Welt. Mutter sitzt wie Oma ganz normal auf dem Sofa und liest ein gutes Buch oder schaut vor dem Zubettgehen noch ein wenig fern.
Das muss das Paradies sein.
Noch aber ist es nicht so weit, noch gibt es sehr viel zu erzählen. Nach einer halben Stunde rette ich mich unter dem Vorwand, dass gleich Gottesdienst sei. Gottesdienst am Freitag, so ein Quatsch! Zum Glück hakt sie nicht nach, sondern entlässt mich.
«Gut, Thorsten, schön, dass du doch nochmal angerufen hast.»
«Ja, fand ich auch. Also bis in einer Woche dann.»
«Und du versprichst mir, dass du keinen Alkohol trinkst!»
«Jaja.»
«Thorsten?»
«Nein, mach ich nicht.»
«Dann will ich dir mal glauben. Tschüs dann.»
«Ja, tschüs, und grüß alle.»
Klack.
Die Kackasitzung bringt die gleichen Ergebnisse wie gestern und vorgestern. Ich werde dicker und dicker, und irgendwann platze ich, und zwar genau auf der Hälfte der Rückfahrt. Im Bus steht meterhoch die Scheiße, der Fahrer gerät in Panik und öffnet die Türen, und das auf der Autobahn bei voller Fahrt! Scheiße auf kochendem Asphalt, Scheiße ist schlimmer als Öl, es kommt zu einer Massenkarambolage usw.
Was ich mir da dauernd zusammenphantasiere. Manchmal befürchte ich, verrückt zu werden, irgendwann wird sich der ganze Unfug in meinem Kopf zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammenzuzzeln, und dann bin ich endgültig irre. Davor habe ich ernsthaft
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