Flegeljahre am Rhein
haben, genauestens wissen lassen.“
Tithemis Falten auf der Stirn haben nun bald alle Amtlichkeit verloren. Unamtliche Züge beginnen sich um seinen Mund zu legen. Sein kleiner Schnauzbart vibriert. Und spitzen sich Tithemis Ohren nicht wie bei Meister Lampe, wenn der etwas aus der Ferne wittert?
Der sorgfältig gespitzte Bleistift in seinen Händen fährt jetzt jedenfalls hurtig Karussell. Und wenn Tithemi lebhaft mit dem Bleistift spielt, ist zumeist alles in bester Ordnung.
Balduin betastet vorsichtig die aufgeklebten Pflaster.
Die beiden Fliegen summen. Oder sind es drei? Oder gar vier?
Balduin berichtet...
Nun können es gar zehn Fliegen sein, die da summen. Tithemi wird sie nicht hören. Es muß sehr interessant sein, was Balduin da erzählt.
Dunkle Stunden und amtliche Falten
Da gibt es einen Plumps.
Wie?
Da scheint jemand auf die Nase gefallen zu sein. Aus...
Nein, es fängt jetzt erst an. Es scheint nicht einer auf die Nase gefallen zu sein, sondern es i s t einer auf die Nase gefallen. Und wie ist er hingepurzelt!
Der Wind fährt durch die Blätter, holt tief Atem, raschelt im Baum, singt ein tiefes Lied — ein warmer, launiger Sommerwind. Und vor dem Hause Peterstraße 7a nimmt er ein jämmerliches „Au!, Au!, Au...“ auf, das aber nur leise jammert, weil es niemand hören darf oder hören soll, und das deshalb nur sanft mitgetragen wird, an dem Hause des Herrn Amtsgerichtsrats vorbei, vielleicht noch ein Haus weiter, sich dann aber verliert und den Wind allein weiterlaufen läßt. „Au!, au...“, jammert Balduin und reckt sich langsam hoch. Er reibt sich das linke Knie; er tastet an die Stirn, da fühlt er eine Schramme; er streicht über die Backen, da fühlt er Blut. Sein Hut liegt auf dem Boden. Sein Stock liegt auch da. Balduin bückt sich... Au!, au!, au! Er setzt den Hut auf, wie er ihn gerade gefaßt hat, schief,
Bandschleife nach vorne, hinkt zur Haustüre, atmet tief und schmerzerfüllt. Greift in die Hosentasche, in die rechte, in die linke, noch einmal, ganz tief, sehr gründlich, kehrt die Taschen um, tastet die Rocktasche ab, die Westentasche, sämtliche Taschen, kehrt auch sie um — vergebens. Der Hausschlüssel findet sich nicht. Balduins Hut sitzt vor Aufregung noch schiefer. Das Schleifenband ist um viele Grade weitergerutscht.
Die Stirn tut weh. Das Knie schmerzt. Die Backen schmerzen. Der Kopf schmerzt. Alles schmerzt. Und der Schlüssel ist nicht da.
Balduin drückt auf den Klingelknopf. Ganz zaghaft, ganz kurz — wie einer, der nicht weiß, ob er es tun darf oder nicht. Er hört die Schelle. Es kommt ihm vor, als ob tausend Schellen das Haus zusammenklingelten.
Es bleibt stille im Flur und dunkel. Balduins Zeigefinger krabbelt wieder zum Klingelknopf, wird ganz kühn und drückt lange darauf. Auf einmal geht die Schelle nicht mehr. Wie sehr Balduin auch drücken mag — vergebens. Die kleine Messingglocke schweigt. Emma hat die Schelle abgestellt. Emma ahnt nicht, was da unten, am Gartentörchen, geschehen ist. Sie weiß nichts von den Schrammen, sie kennt nicht die Schmerzen, die Balduin erdulden muß. Sie hat nur eingesehen, daß sie einmal „andere Saiten“ aufziehen muß.
Mußt du so streng sein, Emma? Emma-Frauchen, nun sei doch schön vernünftig!...
Vielleicht hat sie doch nicht so ganz unrecht... spricht Balduin zu sich selbst. Warum hast du heute nachmittag so mürrisch das Haus verlassen, als deine Frau ein sehr wichtiges Thema anschnitt? Es war wirklich nicht schön, daß du einfach vom Schreibtisch aufsprangst und nach Rebenheim flüchtetest. Wäre das nicht so schnell gegangen, dann...
Balduin gibt es auf, in sein molliges Bett im eigenen Heim zu kommen. Ein Plan ist gefaßt. Nicht weit von hier wohnt ja Doktorchen — der Zahnarzt, mit dem Balduin so manches Glas geschmettert hat. Doktorchen muß ihn für heute nacht aufnehmen.
„Emma, ich habe dich nicht nötig!“
Balduin braucht nicht wieder über das Törchen zu klettern. Das Törchen vor dem Hausgarten der Peterstraße Nummer 7a ist sozusagen ein Patenttörchen. Es läßt sich von innen auch ohne Schlüssel öffnen. Denn wenn dem nicht so wäre — was dann? Den Balduin nochmals über das Törchen klettern, ihn vielleicht nochmals auf die Nase fallen zu lassen, das wäre im höchsten Maße unfein, das wäre grausam.
Die Peterstraße liegt in tiefem Schlaf. Kein Schritt, kein Geräusch, kein Licht hinter den Fenstern eines der Häuser. Nur eine müde, flackernde Beleuchtung zweier
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