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Flegeljahre am Rhein

Flegeljahre am Rhein

Titel: Flegeljahre am Rhein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ruland
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Gaslaternen wirft ein wenig Helligkeit auf den Kies der Bürgersteige rechts und links der Straße. Der Himmel strahlt klar und rein; samten und weit liegt sein unendliches Meer; die Sterne flimmern wie ferne Leuchtfeuer; der Mond, rund und redlich, steht zu schön auf Wacht: fast kitschig, wenn man ihn so zwischen den Bäumen erblickt.
    Ein Liebespaar müßte jetzt über die Straße kommen, umschlungen und glücklich. Nichts von dem. Stattdessen schlürft ein matter Schritt knirschend über den Kies. Die Schritte kennen nur ein Ziel: Villa „Sonnenblick“. Sie haben keinen weiten Weg mehr bis dorthin. Am Ende der Peterstraße, bei Apothekers, geht es rechts herum und eine vielstufige Steintreppe hinauf.
    Villa Sonnenblick schaut keineswegs immer zur Sonne. Sie liegt inmitten hoher Bäume und klebt buchstäblich mit ihrer Hinterfront am Berge. Doktorchen, das im Erdgeschoß und auf der ersten Etage wohnt, sieht nur auf dichtes Laubwerk, wenn er zum Fenster hinausschaut. Oberlehrer im Ruhestand Grevel dagegen, der als Doktorchens Mieter die zweite Etage bewohnt, kann etwas vom Rhein sehen, über die Bäume hinweg, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellt.
    Balduin schleicht auf die große Haustüre zu.
    „Sprechstunden nur nach Vereinbarung“ steht da auf dem großen Emailleschild, das Doktorchen als Zahnarzt vorstellt. Balduin hat nichts vereinbart... Verdammt nochmal, da fällt ihm ein, daß es gar nicht so einfach ist, Doktorchen aufzuwecken.
    Soll er rufen, soll er schellen? Dann wird dieser ungemütliche Grevel wach, dieser alte Stänker, den Balduin sowieso nicht leiden mag, und wenn der im Schlafe gestört wird, gibt es einen Mordskrach. Erst kürzlich hat Balduin ihn erlebt, als es etwas laut herging auf Doktorchens Herrenabend. Nun ja, Leute im Ruhestand wollen manchmal wirklich ihre Ruhe. Grevel hat außerdem einen heimlichen Groll auf „höhere“ Lehrer.
    Dumme Sache, jetzt das Doktorchen zu wecken. Und außerdem, die Sache ist nämlich die: Doktorchen ist nicht da! Seine Frau ist seit einigen Tagen verreist, und da hat der Herr Gemahl ebenfalls für einige Tage sein Köfferchen gepackt. Doktorchen, vermögend, kann es sich leisten, Sprechstunden „nur nach Vereinbarung“ abzuhalten. Deshalb kann er auch großzügig und den Primanern ein guter Freund sein: ihnen einmal unter die Arme greifen mit ein paar Groschen, wenn es für das Rendezvous mit einem kleinen Mädchen nicht ganz zu einer Tasse Kaffee reicht. Balduin wird vergeblich versuchen, bei Doktorchen unterzuschlüpfen. Er rüttelt ganz sachte an der Haustür, trommelt gegen die Scheiben. Rüttelt wieder, rüttelt lauter. Dann klopft er mit seinem Stock gegen die Fenster von Doktorchens Studierzimmer. Noch einmal gegen die Haustüre. Versucht es an der hinteren Türe, durch die ihn Doktorchen einmal still hat verschwinden lassen, als Emma ihn vorne empfangen wollte. Balduin versucht es vergebens. Und sieht nicht den leeren Mülleimer, der vor der Hintertüre steht. Klapperaklapp, da fällt er mit viel Krach um, rollt ein Stück weiter, und da wird oben, im zweiten Stock, ein Fenster geöffnet:
    „Ist da jemand...?“
    Eine entrüstete, freche Stimme.
    Der Jemand fährt erschrocken zusammen, läßt den Stock fallen, und ehe er merkt, daß er in einer verflixten Situation steckt, ist wieder die freche Stimme da, die sehr stark nach Grevel und Ruhestand klingt:
    „Na, das ist ja allerhand! Ich muß schon sagen... ich bin empört! Ein Studienrat versucht, in die Wohnung meines verreisten Hausherrn einzubrechen! Ich bin empört, Herrrr!“
    Balduin hebt schleunigst seinen Stock auf, preßt sich an der Hauswand entlang.
    „Ich habe Sie erkannt! Bemühen Sie sich nicht! Sie... Sie... ich finde keine Worte, Herr! Mich im Schlafe zu stören! Einzubrechen! Ich finde wirklich keine Worte, Sie... Sie...“
    Er braucht auch gar keine mehr zu finden. Balduin ist längst wieder auf der Steintreppe, fällt fast hinab. Es ist zu viel, was da auf ihn einstürzt. Hingefallen, ausgesperrt, Einbruchsversuch...
    Vom Kirchturm her hallen drei Schläge dumpf über die Stadt, schwingen nach in den Gassen, klingen schwer durch die Straßen und fallen Balduin wie Gespenster an. Ein Viertel vor zwei Uhr. Balduins Beine, Modell O, tapsen sich schneller vorwärts. Seine letzte Hoffnung gibt ihnen die Richtung an: Theobald. Wenn der nicht hilft, wird nichts mehr helfen. Theobald, der Wirt vom „Vater Rhein“, wird ihm beistehen!
    In zehn Minuten hat Balduin sich zu ihm

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