Fleisch und Blut - Der Kannibale
dünnen Haare hingen lasch bis zum Ohrläppchen. Der Kopf war nicht aus Plastik, nicht aus Wachs. Der war echt – verdammt echt sogar. Nach einer Schreckenssekunde fiel es Jürg Ambauen wie Schuppen von den Augen. Das metallbett-ähnliche Gestell in der Raummitte war eine Schlachtbank. Das Blut an den Wänden – die Bilder setzten sich stückweise zusammen – stammte vom Schlachtritual, mit dem Unterschied, dass es sich hier nicht um Tiere handelte, sondern um Menschen.
«Wer tut so was? Und warum?»
Ambauen krümmte sich vor Schmerz und kotzte sich den allerletzten Rest aus dem Leib. Als er sich später etwas beruhigt hatte, wollte er nur noch eines: raus! Es kam ihm gerade noch in den Sinn: «Ich muss Fotos schiessen!»
In diesem Moment war sein Akku leer.
Seine Panik wurde stärker, als er meinte, Schritte zu hören. Die Schritte kamen näher. Oder spielte ihm lediglich seine Angst einen Streich und er bildete sich die Schritte ein? Ambauen wollte sich noch ducken. Doch dann traf ihn ein harter Schlag von hinten ins Kreuz.
Der Journalist fiel zu Boden. Der Schmerz an der Wirbelsäule war unerträglich. Er konnte sich nicht bewegen. Er wollte schreien, seine Stimme versagte.
Er hörte ein Geräusch, als ob ein Baseballschläger durch die Luft zischte. Dann traf ihn ein zweiter, härterer Schlag auf den Hinterkopf. Es knackste. Regungslos blieb Ambauen auf dem blutverkrusteten Boden des Schlachtraumes liegen.
Vermisst
Kommissar Aemisegger kreuzte erneut den gelben Kleinwagen des ulkigen Herrn, der auch heute wieder die Baseballmütze aufhatte. Wie beim letzten Mal parkierte der gelbe Wagen auf dem Kiosk-Parkplatz. Aemisegger wunderte sich. Es war bemerkenswert, dass ein älterer Herr seine tägliche Routine durchbrach und neuerdings beim Kiosk einen Stopp machte. Vorerst beiläufig wanderten die Augen des Kommissars zum Kioskplakat. Die Schlagzeile des heutigen Tages stach ihm in die Augen.
«Was?!», murmelte Aemisegger vor sich hin. In der ersten Sekunde traute er weder seinen Augen, noch seinem Verstand. Schweissperlen rannen ihm aus den Geheimratsecken. Aemisegger hoffte zu tiefst, dass sich seine Befürchtungen nicht bewahrheiten würden. Er brannte darauf, die Story zu lesen.
Nach einem Blick in den Rückspiegel setzte Aemisegger seinen Wagen ein paar Meter zurück. Sekundenschnell legte er den ersten Gang ein, kurbelte das Steuerrad, drückte volle Pulle aufs Gas und bog scharf links ein, fuhr dann quer über die Sicherheitslinie und parkierte direkt vor dem Kiosk. Ungeduldig sprang er aus dem Wagen und stellte sich hinter den älteren Herrn in die Reihe.
An vorderster Front lag die Tageszeitung. Die Headline stach unmissverständlich ins Auge:
Journalist spurlos verschwunden
titelte das Tagesblatt heute. Es kam, wie befürchtet: der Journalist, von dem die Rede war, war Jürg Ambauen, der Mitarbeiter von Felix Tägli.
«Eine Zeitung bitte!» Fordernd, aber korrekt bestellte Aemisegger bei der Kioskfrau und streckte ihr das Münz bereits entgegen. Er klemmte sich das Blatt unter den linken Oberarm und grüsste den Herrn mit der Dächlikappe beim Gehen.
«Der Herr Kommissar, seid gegrüsst!»
Woher der Herr wohl wusste, dass er Kommissar war? Mit einem verschmitzten Lächeln sah der kurlige Mann, den Aemisegger um zwei Köpfe überragte, zu ihm hoch. Vielleicht hätte er sich vorher die Krümel aus den Mundwinkeln abwischen sollen.
Zurück im Wagen angekommen, sog Kommissar Aemisegger jedes Wort förmlich aus dem Artikel auf:
Jürg Ambauen, Journalist unserer Tageszeitung, ist seit letztem Dienstag spurlos verschwunden. Der 34-Jährige recherchierte im Mordfall Lukas Brennwald (Anm. d. Redaktion: wir haben vor einigen Wochen darüber berichtet). Wie Ambauen gegenüber dem Chefredaktor kurz vor seinem Verschwinden erwähnt hatte, verfolgte er eine heisse Spur. Er wurde am Dienstagabend kurz vor 18 Uhr zuletzt auf der Redaktion gesehen. Gemäss seiner Ehefrau sei er am selben Abend nicht nach Hause gekommen. Seither fehlt von ihm jede Spur. Die Polizei sucht Zeugen. Wer ihn nach 18 Uhr gesehen oder anderweitige, sachdienliche Hinweise hat, meldet sich bei Kommissar Köppel von der Kantonspolizei Zürich.
Es folgte eine Personenbeschreibung von Jürg Ambauen, daneben ein Foto von ihm.
Entsetzt legte Aemisegger die Zeitung auf den Nebensitz. Er befürchtete sofort das Schlimmste. Er hatte Ambauen nicht aus Konkurrenzdenken oder
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