Fleisch und Blut - Der Kannibale
fragte, ob es richtig gewesen war, ganz alleine herzukommen. Der Mann sah heruntergekommen aus. Ihr war es nicht wohl in seiner Gegenwart und schon gar nicht, alleine mit ihm ins Haus zu gehen. Niemand wusste, dass sie hier war. Natürlich war sie sensibel geworden – wer wäre das nicht bei all den Ereignissen in den letzten Wochen. Sie konnte nicht ausschliessen, dass Herr Ritler der Mörder war. Was wäre dann? Was, wenn der Topf bereits auf dem Herd stand und er nur darauf gewartet hätte, dass sie zu Besuch kam? Wie dumm es doch von ihr war, ihm in ihrem Eifer zu vertrauen! Doch umkehren wollte die Detektivin nicht und schliesslich war sie es, die sich um das Treffen bemüht hatte. Also betrat sie mutig das Lokal und begab sich sozusagen in seine Hände …
Auf dem Polizeiposten fixierte ein enthusiastischer Köppel die Klassenliste. Die Erinnerung an den makabren Fund steckte ihm noch tief in den Knochen. Sein Magen machte sich bemerkbar, wenn er nur schon daran dachte. Dass das Auge auf dem Fenstersims in den Raum geglotzt hatte, keinen Meter daneben das Ohr – das war schon eine harte Kost gewesen. Nun aber war die Vorstellung, dass der Mensch, dem diese Körperteile gehört hatten, auf dieser alten Klassenliste stand, kaum zu ertragen. Dazu hallten die Worte von Mediziner Kägi in seinen Ohren: «Der Täter hat hier seine Notdurft verrichtet.».
Wie abscheulich – was für ein widerwärtiger Mensch das doch war, der so etwas tat. Abartig.
Kägi hatte die Kotstücke mit ins Labor genommen, genauso wie auch alle andern Fundstücke bei der Waldhütte. Köppel hoffte zutiefst, dass die DNA vom Opfer, aber auch von diesem Monster festgestellt werden konnte.
Seine Augen glitten über die Liste. Die damalige Klassensprecherin hiess Sandra Berchtold. Die Nummer von Markus Fricker hatte er als erstes eingetippt. Doch wie erwartet war der Akt erfolglos. Also überlegte er, ob es Sinn machen würde, mit der Klassensprecherin oder sonst jemandem von der Liste in Kontakt zu treten. Gesetzten Falles er könnte überhaupt jemanden erreichen – immerhin war diese Liste dreissig Jahre alt. Er begann, den Faden gedanklich weiterzuspinnen: Nehmen wir mal an, Markus war dieser „Kusi“; nehmen wir mal an, der DNA-Abgleich mit den Überresten aus der Waldhütte könnte dies eindeutig beweisen; dann würde das bedeuten, dass die Opfer zusammen in einer Klasse waren. Und somit wäre vorstellbar, dass der Täter ebenfalls aus diesem Umfeld kam.
Angefixt von dieser Idee forschte Köppel im Internet nach Sandra Berchtold und hoffte, dass er für einmal spielend zum Ziel kommen werde. Bei aller Schwerfälligkeit, die die Ermittlungsarbeiten mit sich brachten, hoffte er diesmal Glück zu haben. Tatsächlich, er musste noch nicht einmal lange suchen, fand er eine Dame, die vom Alter her passen konnte. Sie arbeitete als Angestellte in einem Familienunternehmen und war auf der Website mit Foto und Telefonnummer aufgeführt. Er zögerte keine Sekunde und rief bei ihr im Büro an.
Sandra Berchtold zeigte sich überrascht über Köppels Anruf. Sie war es wirklich – Köppel konnte es kaum glauben: Er telefonierte gerade mit Sandra Berchtold, der Klassensprecherin der 5. Primarschule aus dem Jahr 1982. Seine Freude wurde schnell gedämpft: Sandra Berchtold konnte sich kaum an ihre Primarschulzeit erinnern. Sie gab Köppel Auskunft so gut sie konnte.
«Wir haben diese Klassenliste bei Lukas Brennwald gefunden. Genauer gesagt, sein Mitbewohner hat sie gefunden. Hatten Sie zu Lukas Brennwald noch Kontakt gepflegt oder war ein Klassentreffen im Gespräch?»
«Lukas? Nein. Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war wohl vor einigen Jahren, als wir uns beim Shoppen in Zürich über den Weg gelaufen sind.»
Köppel schrieb jedes Wort eifrig mit.
«Beim Shoppen sagen Sie und seither nicht mehr. Dann noch etwas anderes: auf der Klassenliste steht ein Mann namens Markus Fricker. Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?»
«Kusi meinen Sie? Er ist bis heute einer meiner besten Freunde geblieben! Wir sind zusammen aufgewachsen, er war mein Nachbar. In der Schule war er im Gegensatz zu mir auch gut befreundet mit Lukas Brennwald und Alexander Warenberger.»
«Interessant.» Köppel notierte sich die Namen. «Sagten Sie eben Kusi?»
«Warum fragen Sie mich das eigentlich, Herr Kommissar? Hat Kusi etwas angestellt, etwa zusammen mit Lukas?»
«Die Lage ist ernst, Frau Berchtold, Herr Brennwald und
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