Fleisch und Blut - Der Kannibale
Den Bullen traue ich keinen Meter über den Weg.»
«So?» Aemisegger zog die Brauen hoch. Er war viel zu neugierig, als dass er sich von Remo Iseli provozieren hätte provozieren lassen.
«Eine Klassenliste.» Iseli streckte dem Kommissar ein vergilbtes A4-Blatt hin. Am Titel gemessen musste das Papier mindestens dreissig Jahre alt sein. Oben auf dem Papier stand mit Schreibmaschine geschrieben: 5. Klasse, 1982.
Kommissar Aemisegger wusste nicht, was ihm Iseli mit dieser Klassenliste sagen wollte. «Was soll ich damit! Sie erlauben sich doch nicht etwa einen Scherz?», fragte er ihn forsch.
«Sag ich doch, ihr Bullen rafft es einfach nicht. Selbstverständlich nicht! Ich habe heute das Zimmer von Lukas betreten. Ich dachte, da er eh nicht mehr zurückkommen wird, könnte ich sein Zimmer wieder untervermieten. Als ich seinen Kleiderschrank öffnete, flog mir dieses Papier geradezu entgegen. Warum dieses alte Blatt? Vielleicht hatten es die Schnüffler von der Spurensicherung dorthin abgelegt. Wenn Sie mich aber fragen, hatte Lukas das rausgekramt, um mit seinen alten Kameraden Kontakt aufzunehmen. Ich meinte, er hatte mal etwas erwähnt. Finden Sie nicht, dass das verdächtig ist?»
«Eigentlich nicht, nein. Aber lassen Sie mich die Liste mal anschauen. Kennen Sie die Leute auf dieser Liste?»
«Ich? Nein. Ich komme aus dem Kanton Zug. Den einzigen, den ich vom Namen her auf dieser Liste kenne, ist Lukas. Die Adressen sind bestimmt längst überholt. Ich habe echt keine Ahnung, wozu diese Liste gut sein sollte. Vielleicht diente sie ihm auch nur als Erinnerungsstück an die guten alten Zeiten. Wie gesagt, das ist ihr Job, ich muss mich jetzt um einen neuen Mitbewohner kümmern. Die Mieten in der Stadt Zürich sind echt zum Kotzen. Dass Lukas umgebracht wird, hätte ich echt nicht gebraucht. Aber das ist Ihnen ja scheissegal! Logisch – die Polizei, dein Freund und Helfer.»
Aemisegger bedankte sich pro forma bei Iseli, obwohl er noch immer nicht so genau wusste, was er mit dieser Liste anstellen sollte. Es standen dreiundzwanzig Namen drauf mit Adresse, Telefonnummer und Geburtsdatum. Das war alles – eine Klassenliste halt. Wobei - Iseli hatte schon recht: es war verwunderlich, dass Brennwald diese bei sich liegen hatte. Nach dreissig Jahren wählte kaum jemand die alten Telefonnummern von Kameraden, die auf einer Klassenliste standen. Irgendetwas musste diese auf sich haben.
Nach einer Weile des Betrachtens fiel Aemisegger auf, dass es in der Klasse einen Markus gab. Ob das ein Hinweis auf diesen Kusi sein könnte? Aemisegger klammerte sich an die Idee. Obwohl, wie er sich gleichzeitig eingestehen musste, war Markus kein seltener Name. Es wäre ein immens grosser Zufall gewesen, wenn das im Holzstück eingeritzte Wort «Kusi» der Name dieses Markus Frickers gewesen wäre. Wie sollte er das beweisen können? Doch ja, da er derzeit keinen anderen Hinweis oder Anhaltspunkt hatte, wollte er es nicht unversucht lassen, diesen Klassenkameraden Markus ausfindig zu machen.
«Das ist ein Fall für Köppel!» Aemisegger bemerkte noch nicht einmal, dass Köppel längstens in seinem Türrahmen gestanden hatte und darauf wartete, dass sein Chef zu ihm hinsah.
«Sie reden mit sich selbst - über mich?»
«Ja, ähm - gut, dass Sie da sind, Köppel. Prüfen Sie diese Klassenliste. Finden Sie heraus, ob dieser Markus Fricker mit Lukas Brennwald Kontakt pflegte. Auch wenn ich an Kägis Interpretation grosse Zweifel hege, haben wir hier doch die Chance, dass „Kusi“ vom Namen Markus hergeleitet und mit „Kusi“ Markus Fricker gemeint war. Sie wissen schon, das Auge und das Ohr von der Waldhütte.»
Er hörte sich zerknirscht an. Die klitzekleine Chance bestand dennoch, und dem wollte Köppel nachgehen. Beide Kommissare befürchteten, die Hoffnung, auf eine Spur gestossen zu sein, könnte sich wieder einmal zerschlagen. Nur ging jeder damit anders um. Aemisegger wirkte niedergeschlagen während Köppel sich an jedem Strohhalm hielt. Vom Ehrgeiz gepackt, griff Köppel nach dem Papier und verschwand sofort in seinem Büro.
Detektivin Fuchs stand nun in Illnau vor dem Lokal, in dem sie sich mit Anton Ritler verabredet hatte. Da sie keine Klingel finden konnte, klopfte sie an die verschlossene Tür. Ein bärtiger, schmächtiger Mann mit wildem Blick und gekraustem, buschigem Haar, öffnete ihr die Tür. «Hereinspaziert!», begrüsste er sie. Es war der erste Moment, als Carla Fuchs sich
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