Fleisch und Blut - Der Kannibale
jedem innewohnt. Mana war vielleicht das, was die altchinesische Philosophie als Qi bezeichnete. Eine Lebenskraft, die nur begrenzt messbar, die vielmehr eine Sache des Glaubens und der Vorstellung war.
Die Detektivin las unter einem anderen Link:
„ In der Neuen Welt ging es den Europäern um den quasi magischen Verzehr von
Vitalkraft. Ausserhalb Europas hatte die Person, die ass, zu der Person, die gegessen wurde, fast immer eine persönliche Beziehung. Umgekehrt in unseren Breitengraden: Europas Kannibalismus ist „ausgesprochen asozial“ gewesen: Was zählte, war Qualität; menschliche Körperteile waren Handelsware, gekauft und verkauft, um Profit zu machen.“
Das Telefonklingeln holte sie aus der gedanklichen Tiefe. Sie war labil und schreckhaft geworden. Erleichtert erkannte sie die Stimme des Chefredaktors. Felix Tägli war hörbar aufgeregt: Er war überzeugt, endlich auf einen Hinweis gestossen zu sein. In der Garderobe sei ihm plötzlich die grüne Strickjacke aufgefallen, klar, die war ja noch von Ambauen. In der Seitentasche habe er eine Visitenkarte von einem Präsidenten eines mittelalterlichen Vereins gefunden. Ambauen selbst war ein moderner Typ gewesen. Wäre er dem Mittelalter nachgehangen, hätte Felix Tägli das gewusst. Oder es wäre ein neu entflammtes Interesse gewesen, was auch von Bedeutung sein konnte. Wie auch immer – der Chefredaktor war ganz aufgeregt, als er der Detektivin von seinem Fund berichtete, und auch davon, dass auf der Rückseite dieser Karte ein Termin notiert war. Allerdings lag das Datum etwa zwei Wochen vor dem Verschwinden von Ambauen, doch das musste nichts bedeuten.
«Was denkst du, Carla, war dieser Präsident vielleicht der Mörder?»
«Sicher, möglich wäre es. Toll, Felix, endlich haben wir eine Spur!»
«Hast du etwas zum Schreiben bei dir? Ich gebe dir am besten die Telefonnummer.»
Fuchs notierte sich die Kontaktdetails, legte auf, um spontan die Nummer anzurufen, die sie von Felix Tägli erhalten hatte. Nach dem dritten Klingeln meldete sich ein Mann mit barscher Stimme: «Ritler».
Sie verabredeten sich für den kommenden Dienstag im Vereinslokal in Illnau.
Das Seltsame war nur, er wollte noch nicht einmal wissen, worum es ging.
Die goldene Quelle
Es war 10.30 Uhr an diesem Dienstagmorgen, als Detektivin Carla Fuchs in Illnau aus dem Zug stieg und sich auf direktem Weg zum Lokal des Vereins Mittelalter von Anton Ritler aufmachte.
Zur selben Zeit war Kommissar Aemisegger auf dem Polizeiposten Zürich alles andere als untätig, wenn auch er seit Wochen, nein, seit Monaten, nicht den winzigsten Hinweis auf den Täter hatte, sich die Morde zu häufen begannen, und er deswegen massiv angeschlagen war, was sich nicht nur in seinen Schlafstörungen zeigte. Etwas Gutes hatte die Misere bei ihm bewirkt. Er hatte seinen Schreibtisch endlich wieder einmal von den Bergen an Papierkram und Kaffeebechern befreit. Man konnte sogar wieder seine Tischfläche sehen. Das war ein Fortschritt, ein sehr grosser sogar.
Aemisegger war gerade dabei, sich in sein frisch entstaubtes Büro einzuleben, als das Telefon schellte. Die Kollegin aus dem Erdgeschoss meldete den Besuch eines jüngeren Mannes, der den Kommissar dringend sprechen wollte. Als Aemisegger vernahm, dass es sich um Remo Iseli, den Mitbewohner des ersten Opfers handelte, stieg nach Langem wieder Hoffnung in ihm auf.
«Grüezi Herr Iseli, kommen Sie bitte in mein Büro.»
Iseli war nicht der Typ, der sich in der Umgebung von Polizisten wohl fühlte. Als sogenannter Kampf-Kiffer mied er normalerweise den Kontakt zu den Beamten so gut er konnte. Dieser Aemisegger war ihm auch nicht sonderlich sympathisch. Nicht, dass er persönlich etwas gegen ihn hatte, sondern halt einfach, weil er ein Bulle war.
«Grüezi, Herr Aemisegger.»
«Ich bin überrascht über Ihren Besuch.»
«Ich wollte fragen, ob Sie den Mord an meinem Kumpel endlich aufgeklärt haben?»
«Deswegen kommen Sie vorbei?» Geschickt wich Aemisegger der Frage aus. Erstens lag es ihm fern, Remo Iseli in den Stand seiner Arbeit einzuweihen und zweitens gab es auch rein gar nichts, was er zu berichten hatte. Letzteres war ihm eher unangenehm.
«Nein. Ich hatte einfach gehofft, dass der Mörder bereits hinter Gittern sitzt. Mir ist etwas zufällig in die Hände gefallen und mein Gefühl sagte mir, dass es wichtig sein könnte. Ich tue das für Lukas, nicht, weil ich Ihnen helfen möchte.
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