Flesh Gothic (German Edition)
Verkehr gezogen, weil sie in unkontrollierten Dosen psychedelische Halluzinationen und in manchen Fällen sogar Psychosen hervorrufen konnten. Beim Telethesieprogramm der Army wurde es eingesetzt, um die Fertigkeiten von Personen mit Adriannes Talenten zu verstärken, was man damit rechtfertigte, dass die Vorteile für die nationale Sicherheit die Risiken überwogen.
Adrianne war seitdem zumindest psychisch abhängig von den morphinähnlichen Eigenschaften des Wirkstoffs. Schlafmittel allein genügten ihr nicht mehr, um zu funktionieren. »Denken Sie immer daran, was Sie für Ihr Land leisten«, erinnerte sie ihr klinischer Betreuer in Fort Meade regelmäßig. »Übersinnlich veranlagte Menschen wie wir erleiden in der Welt da draußen regelmäßig Schiffbruch oder fristen ein trauriges Dasein als Freaks im Zirkus oder in Wahrsagerbuden. Wir retten viele Leben, indem wir unsere Begabungen so einsetzen, wie wir es hier tun.« Damit hatte er natürlich recht. Gleichzeitig wusste Adrianne, dass sie ihr eigenes Leben das Klo runterspülte, indem sie ihre »Pflichten« fürs Vaterland erfüllte. Das spielte jetzt keine Rolle.
Sie steckte sich eine der vanillefarbigen Kapseln in den Mund und legte sich aufs Bett. Wenn sie das Medikament einnahm, verließ sie ihren Körper schneller, als es ihr lieb war – deshalb die Barbiturate, um der Wirkung entgegenzusteuern. Adrianne wusste, dass sie die Astralwanderung sofort antreten konnte, wenn sie wollte, doch sie entschied, noch eine halbe Stunde zu warten, bis das Lonolox seine volle Wirkung entfaltete. In kreuzförmiger Haltung lag sie da, die Zehen angezogen, die Arme ausgestreckt. Ihr Atem ging langsam und tief. Sie hielt die Augen geschlossen und ihre Sicht beschränkte sich auf graue, körnige Schleier.
Zuerst versuchte sie es mit einigen Transvisionen, was ihr besonders leichtfiel. Indem sie sich auf einen simplen Kerngedanken konzentrierte, begann ihr geistiges Auge »Schnappschüsse« aufzunehmen. Das glich in keiner Weise einer Astralwanderung – es gab kein Umherstreichen, kein Gefühl von Bewegung oder Verlassen des Körpers. Sie dachte an das Südatrium und vor ihrem geistigen Auge tauchte Cathleen auf, die mit überschlagenen Beinen fernsah und dabei intensiv nachzudenken schien. Dann: Küche . Und sie beobachtete Karen und den Schriftsteller bei der Zubereitung des Abendessens. Adrianne sah, wie sich ihre Lippen bewegten – Karen schien aufgebracht zu sein –, allerdings konnte sie nicht verstehen, was gesagt wurde.
Wenn sie Transvision einsetzte, vernahm sie immer nur ein Dröhnen in ihrem Schädel. Ihr Blickfeld unterschied sich dann deutlich vom normalen Sehen und erinnerte eher an das Spähen durch einen schmalen Spalt. Adrianne konzentrierte sich auf verschiedene Bereiche des Grundstücks, dann schwenkte ihre mentale Kamera auf die einzelnen Schauplätze: die Sackgasse vor dem Haus, die Gärten im hinteren Teil des Geländes, die Waldgrenze. Einmal vermeinte sie, einen kleinen Sportwagen wahrzunehmen, allerdings fernab des Parkplatzes; es kam ihr so vor, als sollte er im Wald versteckt werden. Im Inneren konnte sie niemanden erkennen. Dann schwenkte sie weiter weg. Noch ein Auto? Ja, eine alte Stretchlimo mit Faltdach, die einige größere und kleinere Beulen verunstalteten. Der Auspuff dampfte, also lief offensichtlich der Motor. Ein Mann und eine Frau saßen darin, Details ihrer Gesichter blieben Adrianne verborgen. Hatte sie die Grundstückgrenze hinter sich gelassen? Das kam manchmal vor. Sie versuchte gegenzusteuern.
Adrianne musste an Cathleens Erlebnis auf dem Friedhof denken, da tauchten bereits die Bilder in ihrem Kopf auf. Eine überwucherte, im Wald versteckte Begräbnisstätte, umgeben von einem Eisenzaun mit scharfen Spitzen. Sie erblickte schräg stehende Grabsteine, einige davon uralt. Selbst in der Dunkelheit gelang es ihr, den Namen auf einem von ihnen zu lesen: REGINALD HILDRETH.
Also gut ... Und jetzt ... Drücken, sagte sie sich.
Nach unten.
Tiefer, nach unten ...
Ihre Sicht trübte sich. Sie konnte nichts mehr erkennen.
Runter. Tiefer.
Sie befand sich unter der Erde, blickte in den Sarg, nahm jedoch keine konkreten Bilder wahr, nur erkaltete Rückstände einer Todespräsenz.
Einen Leichnam ohne Gesicht.
Raus, raus!
Jäh verließ sie den Sarg, ein Anflug von Klaustrophobie brachte ihre Haut zum Kribbeln.
Igitt! Sie hasste Leichen!
Einer Sache wollte sie noch nachgehen, ehe sie eine Astralwanderung in Angriff nahm. Sie
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