Fliedernächte: Roman (German Edition)
gerührt.
»Ja, doch Eliza scheint anders gewesen zu sein«, fügte Hope hinzu. »Sie verliebte sich früh, wollte heiraten und eine Familie gründen. Eigentlich der Weg, den der Vater für seine Töchter wünschte. Von der Liebe mal abgesehen – die war in seinen Überlegungen unwichtig. Nur hatte seine Tochter sich einen in seinen Augen völlig inakzeptablen Mann ausgesucht.«
Sie hatten das E&D erreicht, und Hope öffnete die Tür. »Das Zimmer war bis heute Morgen belegt und ist noch nicht sauber gemacht.«
»Ich glaube, mit einem ungemachten Bett kommen wir klar. Setz dich, Clare«, sagte Avery. »Schwangere sollten jede Gelegenheit zum Sitzen nutzen.«
»Du hast recht.« Clare ließ sich in den mit violettem Samt bezogenen Sessel sinken. »Glaubt ihr, sie bleibt hier, selbst wenn der Raum belegt ist?«
»Kommt drauf an. Manchmal spüre ich, dass sie oben in meiner Wohnung ist. Oder in der Bibliothek, wenn ich die Whiskeykaraffe oder den Kaffeeautomaten auffülle.«
»Dann verbringt sie also öfter Zeit mit dir. Und jetzt erzähl uns von dem Brief.«
»Das hab ich doch schon getan.«
»Erstens war Clare nicht dabei, und zweitens hört Lizzy uns ja vielleicht zu.«
»Es sind Hunderte von Briefen. Ein Teil ist aus dem Nachlass, der sich früher im Besitz unserer Familie befand, aber meine Cousine hat zusätzlich Briefe aufgetrieben, die Catherine geschrieben hat. Der Großteil allerdings besteht aus Schreiben, die sie erhielt: von Freunden und Verwandten, von ihrer alten Gouvernante, ihrem Musiklehrer und so.«
Nickend setzte Avery sich auf den Rand des Bettes.
»Außerdem existieren Briefe von James Darby, ihrem Mann, und mehrere Briefe, die sie ihm geschrieben hat. Von allen, die ich bisher gelesen habe, sind das meine Lieblingsbriefe. Weil sie Aufschluss darüber geben, wie sich ihre Gefühle entwickelten, welch großes Maß an Respekt sie einander bekundeten, woraus schließlich eine tiefe Zuneigung erwuchs. Ich glaube, dass sie erst durch ihn, durch sein Verständnis für sie, entdeckte, wer sie selbst war. Und das half ihr, ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten.«
»Ein echter Glücksfall in jener Zeit«, sagte Clare. »Männer, die ihre Frauen förderten, waren damals eher selten.«
»Ich glaube, die zwei hatten ein wirklich gutes Leben«, meinte Hope. »Er hat ihr zuliebe dieses Schulprojekt finanziert. Er stammte aus einer reichen, angesehenen Familie in Philadelphia und war ein Schwiegersohn, wie der alte Ford ihn sich nicht besser wünschen konnte. Doch die beiden mochten sich auch, fühlten sich durch gemeinsame Interessen verbunden. Es war also keine Ehe, die wie viele andere damals nur aus Pflichtgefühl oder aus reiner Zweckmäßigkeit geschlossen worden war.«
Plötzlich wehte der Duft von Geißblatt durchs Zimmer. Hope setzte sich neben Avery aufs Bett und fuhr mit ihrem Bericht fort. »Die Liebe hat Catherines Leben bereichert. Sie hat ihre Schwester ebenfalls geliebt, war allerdings zu jung und zu unerfahren, um ihr helfen zu können. Trotzdem hat sie Elizas Geheimnis all die Zeit gewahrt. Die Lektüre ihrer Briefe gibt mir das Gefühl, dass sie dir gegenüber stets loyal war und dich nicht verraten hat«, wandte sich Hope jetzt direkt an den Geist. »Sie stand in engem Briefkontakt mit eurer Cousine Sarah Ellen. Die beiden hatten ungefähr dasselbe Alter, und ihr hat sie ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihr Glück und ihren Kummer anvertraut. Sie hatte Angst um dich, fürchtete sich vor der Reaktion eures Vaters, falls er je von deinen heimlichen Treffen mit Billy erfahren würde. Er war ein Steinmetz, der für euch gearbeitet hat, nicht wahr? Du musst uns sagen, ob das stimmt, damit ich weiter nach ihm suchen kann.«
Plötzlich tauchte sie vor der Balkontür auf.
»Er hat unsere Initialen in einen Stein graviert. Es war ein herzförmiger Stein, den er dann in die Mauer einsetzte, damit er ewig dort bleibt. Ich habe es gesehen. Niemand außer uns beiden weiß etwas davon.«
»Wie war sein Name?«, fragte Hope.
»Billy. Mein Billy. Ich bin alleine ausgeritten und hab mich weiter als erlaubt von unserem Haus entfernt. Bis hinunter an den Fluss, und er stand dort und hat geangelt. Es war ein kühler Sonntagnachmittag im März, und das Wasser des Flusses hat gegen das tauende Eis gedrängt.«
Lizzy schloss die Lider, als könne sie so das Bild besser vor ihrem inneren Auge heraufbeschwören. »In der Luft lag bereits der Duft des Frühlings, obwohl an den schattigen Stellen
Weitere Kostenlose Bücher