Fliedernächte: Roman (German Edition)
Morgen.«
Zwanzig Minuten später legte sie den Hörer wieder auf. Genau in dem Moment, als Avery atemlos hereingestürzt kam.
»Ich wurde noch drüben aufgehalten«, stieß sie hervor. »Hast du schon was unternommen?«
»Nein, ich musste telefonieren. Kennst du eine gewisse Myra Grimm?«
»Möglich. Ein Brent Grimm, der bei Thompson’s arbeitet, ist Stammgast bei uns. Wenn ich mich nicht irre, hat er mal erzählt, dass er eine ältere Schwester namens Myra hat. Warum?«
»Sie will hier ihre zweite Hochzeit feiern. Wie sie mir lang und breit erzählte, wurde sie vor sechzehn Jahren von Mickey Shoebaker geschieden, nahm wieder ihren Mädchennamen an, lebt ein paar Meilen außerhalb der Stadt und arbeitet beim Bestattungsunternehmen Bast.«
»Zum Glück musste ich deren Dienste bisher nie beanspruchen.«
»Sie lernte ihren Zukünftigen vor drei Jahren dort kennen, als sie seine Frau beerdigten.«
»Wow. Ich hätte nicht gedacht, dass man bei einem Bestattungsunternehmen seinen Traummann entdeckt.«
»Wahre Liebe findet offensichtlich immer einen Weg«, meinte Hope lachend. »Wie auch immer: Jedenfalls hat er sie gestern gebeten, seine Frau zu werden, und in einem Monat soll es so weit sein.«
»Das geht aber schnell.«
»Schließlich würden sie nicht jünger, sagt sie. Und es soll nur eine kleine Feier am Nachmittag werden. Vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Leute. Einzelheiten will sie später durchgeben.«
»Eine Zweithochzeit im kleinen Stil«, überlegte Avery. »Ich könnte ein paar Kleinigkeiten vorbereiten, und unsere neue Bäckerei bekäme sicher eine hübsche Torte hin.«
»Das werde ich ihr vorschlagen. Natürlich muss sie noch mit ihrem Verlobten reden, doch es scheint, als wäre er generell mit allem, was sie vorschlägt, einverstanden.«
»Wie praktisch.«
»Okay, jetzt sollte ich mich mal langsam um Lizzy kümmern.« Hope wandte sich zur Treppe, als sie ein Geräusch hinter sich hörte.
»Ich will mir das nicht entgehen lassen«, rief Clare, die gerade die Lobby betrat, ihnen entgegen. »Nicht zuletzt deshalb, weil sie mir schon geholfen hat. Ich dachte, wir bekunden so etwas wie weibliche Solidarität. Vielleicht gefällt ihr das ja.«
»Gute Idee, dann lasst uns mal anfangen. Wir gehen zunächst einmal ins Elizabeth-und-Darcy-Zimmer, denn dort hält sie sich schließlich am liebsten auf.«
»Irgendwie seltsam, findest du nicht auch?«, sagte Avery zu Clare. »Seltsam, aber nicht unheimlich. Es ist, als würde man mit einer Freundin reden wollen. Einer, die man zwar nicht allzu gut kennt und doch sehr gerne mag.«
»Inzwischen wissen wir immerhin so einiges über sie. Sie musste sich nicht nur den damals üblichen gesellschaftlichen Normen beugen, sondern litt überdies unter einem strengen und offenbar wenig liebevollen Vater. Mich wundert es übrigens sehr, dass ich unter den Sachen ihrer Schwester keinen einzigen Brief von ihr gefunden habe. Das gibt mir sehr zu denken, einfach weil es unnormal ist. Die Leute schrieben damals regelmäßig Briefe an Gott und die Welt.«
»Die E-Mails des neunzehnten Jahrhunderts«, kommentierte Avery.
»Ihrer Schwester müsste sie eigentlich irgendwann mal, wenn sie getrennt waren, geschrieben haben«, stimmte Clare zu. »Könnte es sein, dass dieser grässliche Vater dafür gesorgt hat, dass sämtliche Briefe von Eliza verschwanden beziehungsweise vernichtet wurden?«
»Möglich. In den Briefen, die ich bisher gelesen habe, war so einiges zwischen den Zeilen zu lesen«, fuhr Hope fort. »Catherine hatte Angst vor ihm. Ist es nicht schrecklich, wenn man sich vor seinem eigenen Vater fürchtet? Und ich denke, dass sie nach ihrer Heirat, als sie nicht mehr unter seiner Fuchtel stand, die Schule unter anderem deshalb gründete, um Mädchen zu mehr Selbstständigkeit zu erziehen. Und um ihnen einen Zugang zur Bildung zu ermöglichen. Vermutlich hat der alte Ford seinen Töchtern derartige Interessen ebenfalls ausgetrieben. Catherine hat, ihren Briefen nach zu urteilen, immer viel gelesen und während des Krieges ein Faible für Medizin entwickelt. Sie hätte bestimmt liebend gerne studiert, falls Frauen damals bereits überall an den Universitäten zugelassen gewesen wären. Und falls ihr Vater nicht dagegen gewesen wäre.«
»Also hat sie eine Schule gegründet, damit sich die Bildungschancen für Frauen erhöhen und irgendwann auch ein Studium für sie selbstverständlich wird. Damit ihre Träume wahr werden können«, sagte Clare
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