Fliedernächte: Roman (German Edition)
erst ziemlich spät. Die Hitze und die Übelkeit. Doch es verblasst – es ist zu lange her.« Sie streckte eine ihrer durchsichtigen Hände aus. »Alles verblasst.«
»Nicht, bleib bei uns«, bat Hope, denn inzwischen war von Lizzy kaum noch etwas zu sehen.
»Schwanger, mutterseelenallein und krank, während der Mann, den sie liebt, in den Krieg zieht.« Avery stand auf, hockte sich neben Clare und legte ihr Gesicht in ihre Hand.
»So war es für mich nicht. Ich war nie allein, hatte immer eine Familie, die mich liebte. Dennoch kann ich nur zu gut verstehen, wie verängstigt sie gewesen sein muss. Und wie entschlossen. Alles hinter sich zu lassen und mit nicht viel mehr als einer Tasche zum ersten Mal ohne Begleitung irgendwohin zu reisen, dazu an einen völlig unbekannten Ort – und dann noch zu merken, dass sie schwanger ist.«
»Und irgendwo todkrank in einem fremden Bett zu liegen, während der Kanonendonner durch die Fenster dringt. Er hat am Antietam gekämpft«, erklärte Hope. »Da bin ich mir ganz sicher. Sie sagte, dass er sich zu den Soldaten melden wollte und bereits in der Nähe war.«
»Aber zudem lebte seine Familie offenbar in der Gegend, dort sollte sie ja auf ihn warten«, fügte Avery hinzu. »Und wir suchen keinen William, sondern einen Joseph William. Oder Williams? Nur warum nennt sie ihn Billy und nicht Joe?«
»Keine Ahnung. Ich bin auch nicht sicher, ob uns der Name weiterhilft. Vor allem, wenn es sich um zwei Vornamen handeln sollte. Vielleicht können wir wenigstens klären, ob ein Joseph William oder Williams in irgendwelchen Verzeichnissen auftaucht.«
»Je mehr sie redet, umso weniger ist sie zu sehen. Während sie mit uns gesprochen hat, ist sie immer stärker verblasst.«
Hope nickte. »Es hat anscheinend mit Energie zu tun, was weiß ich. Ich könnte natürlich anfangen, mich mit übersinnlichen Aktivitäten, geisterhaften Erscheinungen und Ähnlichem zu beschäftigen, doch ich denke, dass die Suche nach Billy Vorrang hat.«
»Ich werde Owen bitten, ebenfalls wieder intensiver zu recherchieren. Trotzdem müssen vor allem wir ihr helfen, ihn für sie zu finden.« Avery streckte ihre Hände nach Clare und Hope aus. »Sie hat mit uns allen dreien geredet. Die ganze Zeit über hatte sie niemanden, dem sie ihre Geschichte erzählen konnte. Alles, was sie jemals wollte, waren Billy, ein Zuhause, eine Familie und ein Hund. Ich wünschte, ihr Vater würde uns ebenfalls erscheinen. Zwar hab ich keine Ahnung, ob man Geistern gegen das Schienbein treten kann, aber ich würde es auf alle Fälle probieren.«
»Jetzt ist dies hier ihr Zuhause«, stellte Hope mit einem leisen Seufzer fest. »Und wir sind ihre Familie.«
»Wodurch hat Beckett sie wohl aus der Reserve gelockt? Denn das hat er ganz bestimmt«, sagte Avery zu Clare. »Etwas an ihm hat sie bewogen, mit ihm in Kontakt zu treten. Vielleicht erinnerte er sie an ihren Billy. Oder tun das möglicherweise alle drei? Es muss irgendeine Verbindung geben, die weit über die Renovierung des Gebäudes hinausgeht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es so ist.«
»Ja.« Hope runzelte die Stirn. »Du hast recht. Da ist etwas …« Sie brach ab, als unten eine Tür geöffnet wurde und Stimmen zu ihnen heraufdrangen. »Das sind die Putzfrauen.«
»Ich muss sowieso langsam zurück in meinen Laden . « Clare stand ächzend auf. »Wir sollten alles aufschreiben. Manchmal entdeckt man, sobald man etwas schwarz auf weiß sieht, ganz neue Zusammenhänge, die einem bei einem Gespräch nicht auffallen. Weil sie unwichtig oder irrelevant erscheinen. Wenn’s recht ist, übernehme ich das.«
»Und ich beginne so bald wie möglich mit der Suche nach diesem Joseph William oder Williams.«
Gemeinsam kehrten die drei Freundinnen ins Erdgeschoss zurück.
»Wir sollten eine Besprechung abhalten. Alle sechs – und Justine, falls sie mag.«
»Ich hab morgen Abend frei. Kannst du jemanden organisieren, der auf die Jungs aufpasst?«
»Kein Problem.« Clare wandte sich an Hope. »Am besten treffen wir uns hier bei dir beziehungsweise bei ihr. Auf diese Weise lösen wir am ehesten neue Erinnerungen bei Lizzy aus.«
Sie blieben noch kurz in der Eingangshalle stehen, wechselten ein paar Worte mit den Putzfrauen und verabschiedeten sich voneinander, als Hope durch das Klingeln des Telefons ins Büro gerufen wurde.
Da keine neuen Gäste erwartet wurden, blieb Hope ein bisschen Zeit, über das soeben Erlebte nachzudenken und Überlegungen hinsichtlich des
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