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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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Geld, ihr kleinen Miststücke.«
    Sinner rannte weg.
    Als er in der Nacht betrunken nach Hause kam, fand er seine Mutter in dem Zimmer, das er sich mit Anna teilte. (Fast sein ganzes Leben hatte er mit ihr im selben Bett geschlafen. In der Welt, die er kannte, war es nicht ungewöhnlich, wenn Brüder ihre Schwestern vögelten oder befummelten oder sonst was, und er war stolz darauf, dass er sie nie auf diese Weise berührt hatte.) Seine Mutter drückte einen kalten nassen Lappen auf eine grünliche Prellung an Annas Kopf. Anna murmelte im Halbschlaf vor sich hin. Sinner ging in das Zimmer seiner Eltern, weckte seinen Vater und schlug auf ihn ein, bis sein Gesicht völlig blutig war und er in der Ecke neben der Singer-Nähmaschine der Mutter kauerte. Dann erst ging er zurück und nahm den Lappen von seiner Mutter, die hinausging.
    Am nächsten Morgen verabschiedete er sich von Anna und ging in die Sporthalle, um mit Frink zu trainieren. Er hatte einen Kampf im Premierland, den letzten an diesem Abend, und im Anschluss kam ein Mann aus der Menge zu ihm, um ihm zu gratulieren. Er wohnte etwa eine Woche lang in der Wohnung dieses Mannes; dort probierte er zum ersten Mal Kokain, aber seine Orgasmen wurden davon leer und eckig, und das gefiel ihm nicht. Als er schließlich wieder nach Hause ging, war Anna nicht in der Wohnung.
    »Wo ist sie?«, fragte er seine Mutter.
    »Sie ist weg. Dein Vater sucht gerade nach ihr.« Sie hatte geweint.
    »Was zum Teufel soll das heißen, sie ist weg?«
    »Ich bin ausgegangen, und als ich zurückkam, war sie nicht mehr da.«
    »Warum guckst du mich so an?«
    »Wenn du nur hiergeblieben wärst, Seth«, sagte seine Mutter. »Wenn du nur hiergeblieben wärst, dann würde das nicht passieren.«
    »Soll ich etwa Tag und Nacht bei euch bleiben, bis er stirbt oder sich woandershin verpisst?«, fragte Sinner.
    »Nur bis sie einen Mann findet, der sie mitnimmt.«
    »Tag und Nacht.«
    »Warum denn nicht? Warum geht das nicht? Wegen dem Preisboxen und den Mädchen? Entweder du bleibst bei uns, oder du gehst. Er schlägt sie, weil er dich nicht schlagen kann. Herr im Himmel! Wenn du ganz weg wärst, würde er nicht so oft zuschlagen wollen. Wenn du immer hier wärst, würde er zuschlagen wollen, könnte aber nicht. Aber du kommst und gehst. Du bleibst lange genug, um ihn wütend zu machen, und dann verschwindest du. Glaubst du, es hilft, wenn du einmal in der Woche auftauchst, um ihn zu bestrafen? Das macht es nur noch schlimmer für sie. Und für mich.«
    Sinner ging los, um Anna zu suchen. Er fand sie nicht. Und als er Anna verlor, seine Schwester, die er liebte, verlor er mehr als das. Genau wie Erskines Schwester Evelyn hatte Anna etwas über ihren Bruder gewusst, lange bevor er es selbst erkannte. Wenn Anna hörte, wie ihre Mutter ihm etwas über die Mädchen aus der Nachbarschaft vorschwatzte, lächelte sie immer auf eine ganz bestimmte Weise, und wenn sie merkte, dass er einem schönen Mann auf der Straße nachsah, lächelte sie auf eine andere Weise. Beides war nicht wie ihr übliches Lächeln, das ihr langsam ins Gesicht stieg, als würde sich ein Glas mit Orangensaft füllen, und schließlich in ein Lachen überfloss. Sie war erst zwölf, aber sie kannte ihn, wie ihn niemand anders je gekannt hatte. Was war es nur, das er über sich selbst herausfinden musste? Sie hatte es ihm nie gesagt, und jetzt konnte sie es ihm nicht mehr sagen. Welche Geheimnisse waren mit dem Regen fortgespült worden, als Anna ging?

NEUNTES KAPITEL
    März 1936
    Mit zweiundzwanzig – er war frischgebackener Cambridge-Absolvent und nicht sehr glücklich – hatte Erskine in Nachahmung seines Helden Francis Galton mit einer dreimonatigen Periode schonungsloser Selbstversuche begonnen. Von allen Versuchen, die er in dieser Zeit angestellt hatte, waren vier ganz besonders bemerkenswert.
    Der erste war sehr kurz. Den größten Teil seines Lebens hatte Erskine sich gefragt, ob sich die unbewussten körperlichen Prozesse stärker dem Bewusstsein unterwerfen ließen. Also setzte er sich eines Tages zum Zwecke einer Vorstudie zu Hause in Claramore auf sein Bett und konzentrierte sich eine halbe Stunde lang nur auf das Ein- und Ausatmen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit einem Aufsatz zu, den er über die Gattung Ceratophaga schreiben wollte (eine Motte, die ausschließlich die Hufe toter Pferde und die Panzer toter Schildkröten frisst), und befahl seinem Körper, wieder wie gewöhnlich ohne Überwachung zu atmen, so wie

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