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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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Schultern.
    »Ich wusste, dass du das tust«, sagte Evelyn. »Ich merke das immer sofort.« Evelyn war sich bewusst, dass sie nicht ganz überzeugend klang, wenn sie altkluge Bemerkungen wie diese machte, schon gar nicht, wenn sie an jemanden wie Sinner gerichtet waren, mit diesem Blick, den er hatte, aber wie sonst sollte sie sicheres Auftreten üben? Zu Hause ging das nicht. Wenn sie versuchsweise beim Abendessen eine satirische Spitze abschoss, starrte ihr Vater sie lediglich an, bis sie am liebsten geweint hätte. Und Caroline Garlicks Familie war wunderbar, aber das Problem war, dass sie alle viel zu leicht lachten – die Gesellschaft im Hause Garlick war nicht gerade ein literarischer Zirkel. Wenn man ihr nur erlauben würde, nach Paris zu gehen, dann würde sie reichlich Gelegenheit zum Üben haben und eine Menge Leute wie diesen Jungen kennenlernen. Aber wenn sie beim gegenwärtigen Stand der Dinge jemals auf echte Intellektuelle traf – jedenfalls auf andere als ihren Nachbarn Alistair Thurlow –, würden die sie vermutlich für hoffnungslos kindisch halten. Etwa eine Woche lang hatte sie versucht, sehr viel Alkohol zu trinken, weil starke Trinker im Ruf standen, Konversationsgenies zu sein, aber meistens war sie ganz einfach eingeschlafen.
    Evelyn fasste sich und lächelte. »Weißt du, mein Bruder ist in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnlicher Charakter. Ich hätte nie geglaubt, dass er den Mut dazu hat. Sechsundzwanzig Jahre lang diese olympiareife Zurückhaltung, und dann findet man an einem ganz normalen Donnerstag plötzlich eine Konkubine in seinem Bett. Ich vermute mal, es macht dir nichts aus, wenn ich dich so nenne?«
    »Was heißt es denn?«
    »Also nicht.«
    »Was heißt es denn?«
    »Es heißt, dass ich mir nie Illusionen über meinen Bruder und seine wahre –«
    »Ich lass mich von dir nicht beleidigen, du eingebildetes Miststück«, sagte Sinner und wandte sich von ihr ab. Unmittelbar darauf hörte er ein Zischen, und sein Hinterkopf wurde von einem harten Schlag getroffen. Er drehte sich wieder um. Evelyn hatte ihm eins mit dem Schirm übergezogen.
    »Und du wirst nicht so mit einer Frau sprechen«, erwiderte sie mit leicht geröteten Wangen und verließ die Wohnung.
    Sinner setzte sich in einen Sessel und rieb sich den Hinterkopf; er war erstaunt darüber, wie sehr Evelyn ihn hatte irritieren können, aber eigentlich wusste er, dass der Grund dafür war, wie sehr ihn Erskines Schwester an seine eigene erinnerte. Die Schwester, die er einmal gehabt hatte. Anna. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass sie ihn mehr interessierte und irritierte als irgendjemand sonst, den er getroffen hatte, seit er aus New York zurückgekommen war.
    Er war fünfzehn gewesen, als er Anna zum letzten Mal gesehen hatte. Sie war zwölf und hatte Augen, die immer noch viel zu groß für ihren Kopf waren. Die Familie hatte eine Wohnung in der Romford Street, und eines Freitagabends waren sie alle zu Hause gewesen. In dem großen Allzweckraum, den sie Küche nannten, stand Sinners Mutter am Herd und kochte Hühnersuppe, während Anna sich nach Kräften bemühte, Sinner das Stricken beizubringen. Sinners Vater saß mit drei oder vier alten Freunden aus seinem Heimatdorf zusammen. Die Männer beklagten sich über den Gang der Geschäfte und spielten Ocka, ein polnisches Kartenspiel, um Geld. Nachdem er neun Spiele hintereinander verloren hatte, stampfte Sinners Vater mit dem Fuß auf und sagte zu einem seiner Freunde: »Du hast drei Karten genommen statt zwei.«
    »Ich habe zwei Karten genommen.«
    »Es waren drei. Hast du geglaubt, ich merke das nicht?«
    »Ich habe zwei genommen.«
    »Du betrügst schon wieder!«, brüllte Sinners Vater. Er stand von seinem Hocker auf, hob den wackligen kleinen Klapptisch, an dem sie gespielt hatten, in die Höhe und schleuderte ihn aus dem offenen Fenster. Draußen war ein Krachen zu hören, gefolgt von erschrockenen Flüchen. Sinner sprang auf, rannte drei Treppen hinunter und kam unten an, als gerade das erste As auf die Pflastersteine geflattert war. Sofort begann er, nach den Münzen zu greifen, die auf der Straße verteilt waren. Er hatte fast zwei Pfund in kleinen Münzen eingesammelt, bevor er sich umdrehte und bemerkte, dass seine Schwester ihm gefolgt war.
    »Geh wieder nach oben, Anna«, sagte er.
    »Kaufst du uns Süßigkeiten?«, fragte sie. Sie trug eines seiner alten Hemden.
    Sein Vater erschien im Eingang des Mietshauses. »Kommt sofort zurück mit dem

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