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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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man ein Kind entnervt zum Spielen schickt.
    Aber sein Körper ignorierte diese Aufforderung, und er konnte das Gefühl nicht abschütteln, ersticken zu müssen, wenn er nicht jeden Atemzug willentlich tat. Nach mehreren Minuten der Panik, in denen er darüber spekulierte, ob er etwa eine Art Sicherung im Gehirn auf Dauer außer Betrieb gesetzt hatte und für den Rest seines Lebens nie wieder in der Lage wäre, sich auf etwas anderes als das Atmen zu konzentrieren, erkannte er, dass er atmete, ohne nachzudenken – aber sobald er das erkannte, war es vorbei, er geriet in Panik, begann wieder zu atmen, erkannte das, sein Atmen stockte – wieder und wieder –, und erst als seine Mutter an die Tür klopfte, um ihm mitzuteilen, dass seine Schwester früher aus den Ferien zurückgekehrt sei, wurde die Qual unterbrochen. Drei weitere ähnliche, aber weitaus ehrgeizigere Projekte hatte er geplant: auf Befehl einzuschlafen, seine Nasenschleimhäute daran zu hindern, ungewollten Schleim zu bilden, und sein Verdauungssystem so einzustellen, dass er jeden Tag ein sehr großes Frühstück zu sich nehmen und das Mittagessen überspringen konnte, ohne Hunger zu empfinden – aber er beschloss, sie aufzuschieben, um sich nicht selbst dauerhaften Schaden zuzufügen.
    Des Weiteren wollte er wissen, ob der Geist in der Lage war, sich so unberechenbar wie der Körper zu verhalten. Also trug er zwei Wochen lang ein Notizbuch mit sich herum, und jedes Mal, wenn er beschloss, etwas zu tun, sei es auch noch so unwichtig, notierte er sich kurz die Umstände, und vor dem Schlafengehen arbeitete er diese Notizen detailliert aus. Während dieser ganzen Zeit fand er keine einzige Handlung, die in Galtons Worten »spontan und kreativ« war: Alles, was er tat, jede sogenannte Laune, Fantasie oder Inspiration war eine Folge von völlig vorhersagbaren und konventionellen Wünschen oder Zwängen, welche ihrerseits vermutlich auf eine banale Kombination aus Vererbung und Umwelt zurückgeführt werden konnten. Das machte ihn traurig. Am fünfzehnten Tag kam er am Zimmer seiner Schwester vorbei und sah zufällig auf ihrer Frisierkommode ein aus der Zeitung herausgerissenes Bild des französischen Hochstaplers Alexandre Stavisky, bekannt als le beau Sasha . Er trat ein und starrte das Foto eine Weile an, dann ging er in sein eigenes Zimmer und nahm sein Notizbuch heraus, aber er wusste nicht genau, was er aufschreiben sollte: Da er kein besonderes Interesse an Verbrechen und Strafe hatte, gab es auch keinen vernünftigen Grund, warum er sich das Foto angesehen hatte. Er gab das Experiment auf.
    Im Monat darauf erfuhr er, dass eine der Köchinnen seines früheren Internats in Winchester ins Irrenhaus eingeliefert worden war, nachdem sie versucht hatte, einen Jungen mit einer Kasserolle zu attackieren, und er begann sich für den Wahnsinn zu interessieren. Als er das nächste Mal in London war, machte er einen Spaziergang vom Rutland Gate in Kensington zum Droschkenstand am östlichen Ende des Green Park und stellte sich auf dem Weg vor, dass alles, was er sah – Mensch oder Tier, belebt oder unbelebt –, ein Spion sei, den eine fremde Macht geschickt habe. Als er schließlich am Droschkenstand eintraf, konnte er die Pferde einteilen: in solche mit angelegten Ohren, die ihn unverhohlen beobachteten, und solche mit schlaffen Ohren, die so taten, als beobachteten sie ihn nicht. In großem Schrecken rannte er den ganzen Weg zum United Universities Club zurück.
    Erst am nächsten Tag ging es ihm besser, und er begann sein viertes Experiment, das die Götzenanbetung untersuchen sollte. Er stellte eine Calabashpfeife auf seinen Schreibtisch, starrte sie an und sagte sich beharrlich, dass sie die Macht habe, die Menschen für ihr Verhalten zu belohnen oder zu bestrafen. Während die Stunden dahingingen, spürte er ganz allmählich eine Art Ehrfurcht für die Pfeife in sich entstehen, aber er wurde zum Abendessen gerufen, bevor er sich dazu bringen konnte, tatsächlich vor dem Ding auf die Knie zu fallen.
    Am Ende machten ihm all diese Experimente Angst. Der Gedanke daran, wie leicht es war, den menschlichen Verstand zu erniedrigen und zu beeinträchtigen, gefiel ihm gar nicht. Immer häufiger erschien ihm ein bestimmtes Bild, wenn er nach einem harten Tag einschlief. Es war ein großes vornehmes Gebäude, das oben auf einem Hügel stand, ein Wunder aus Säulen und Türmen, eine Mischung aus Burg, Kloster und Herrenhaus. Aber durch jedes Zimmer, jede Halle,

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