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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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sondern eher ein Vorläufer, eine Art Johannes der Täufer, ein himmlischer Herold. Also nannte er ihn vorerst Anophthalmus himmleri und hoffte, dass Anophthalmus hitleri später noch irgendwie kommen würde. Fünf oder sechs Tage pro Woche untersuchte er den Käfer im Labor in seiner neuen Wohnung in Clerkenwell. Dort untersuchte er auch Sinner.
    Er konnte immer noch kaum glauben, dass der Junge hier in seiner Wohnung war. Als er im Herbst aus Polen zurückkehrte, hatte Erskine bemerkt, dass Sinner nicht mehr in Boxing erwähnt wurde. Obwohl er sich nach der Demütigung im Premierland geschworen hatte, keinen Versuch mehr zu unternehmen, Sinner wiederzusehen, war er trotzdem noch einmal dorthin gegangen, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der wusste, wo der Junge steckte. Aber er konnte sich nicht dazu überwinden, eine der zwielichtigen Gestalten anzusprechen, die an den Eingängen herumlungerten, sodass er nur ein einziges Gespräch führte, nämlich mit einem Zeitungsverkäufer, der vor einem Laden mit gebrauchten Möbeln stand und rief: » London Jewish Sentry , ein Penny! Nur für Juden! Ein Penny! London Jewish Sentry , ausschließlich für Juden!«
    Als Erskine an ihm vorbeikam, unterbrach der Verkäufer seinen Singsang und sagte: »Möchten Sie einen, Sir?«
    Erskine drehte sich um. »Soll das ein Witz sein?«
    »Wie bitte, Sir?«
    »Finden Sie etwa, dass ich jüdisch aussehe?«, sagte Erskine erbost, obwohl er feststellte, dass der Zeitungsverkäufer auch nicht jüdisch aussah und wie ein waschechter Cockney klang.
    »Kostet nur einen Penny.«
    »Sind Sie geistig beschränkt?«
    Der Verkäufer zuckte ängstlich zusammen und hielt ihm die Zeitung hin. Erskine nahm sie in der Absicht, sie mit großer Geste in den Rinnstein zu werfen, aber statt Geld zu verlangen, dankte der Verkäufer ihm, wandte sich ab und nahm sein Rufen wieder auf.
    In einer Droschke auf dem Rückweg nach Clerkenwell warf Erskine einen Blick in die Zeitung. Aus irgendeinem Grund war sie auf Englisch, nicht auf Jiddisch geschrieben, und eigentlich war es nicht mehr als ein Pamphlet mit etwa einem halben Dutzend Artikeln und ohne Anzeigen. Die Schlagzeile lautete: »Triumph für jüdisch geführte Handelsbanken in London – Jubel in hebräischer Welt über endgültige Eroberung der Finanzmärkte; auch in Großbritannien wird erreicht, was in Deutschland bereits gelungen ist.« Weiterhin gab es einen fröhlichen Bericht über die Verbreitung des Bolschewismus in bestimmten walisischen Bergarbeiterdörfern, einen Leitartikel, der jüdische Ladenbesitzer ermahnte, Nichtjuden keine Arbeit zu geben und ihnen keine fairen Preise zu machen, und auf der Rückseite eine »freimütige Hilfestellung« für jüdische Männer, wie sie es anstellen sollten, ein Mädchen aus einer reichen englischen Familie zu heiraten; darin enthalten der Ratschlag, »die Früchte zu kosten, bevor man den Obstgarten kauft«.
    An jedem anderen Tag hätte Erskine all das vermutlich sehr erstaunt und fasziniert, aber jetzt konnte er nur daran denken, wie er den Jungen finden sollte. Schließlich beauftragte er jemanden von einer Detektei in Camden, die in der Times annoncierte, aber der Mann konnte lediglich berichten, dass Sinner angeblich am Ende war und sich irgendwo in Blackfriars aufhielt, sodass Erskine die Suche selbst wieder aufgenommen und Glück gehabt hatte. Es war gar nicht seine erklärte Absicht gewesen, Sinner in seine Wohnung zu bringen, um Experimente durchzuführen: Er wollte nur wissen, wo Sinner war. Aber als er den kläglichen Zustand des Jungen sah, war ihm klar geworden, dass er ein vorteilhaftes Geschäft machen konnte. Und jetzt, drei Tage nachdem sie sich auf der Straße begegnet waren, stand Sinner nackt in Erskines Labor, während dieser sich genaue Notizen über seine Anatomie machte. Überhaupt so lange zu warten, war einer Folter gleichgekommen, aber es wäre sinnlos gewesen, anzufangen, solange sein Forschungsobjekt sich kaum auf den Beinen halten konnte.
    »Drehen Sie sich um«, sagte Erskine, und Sinner gehorchte, sodass er auf die Glasbehälter voller Erde sah, in denen Erskine seine Insekten hielt. Sie erinnerten Sinner an Särge, nur eben andersherum, weil die Erde drinnen war. Erskine betrachtete Sinners Hinterteil und verglich es in Gedanken mit dem des polnischen Jungen und in seinem Notizbuch mit dem eines normalen gesunden Mannes. War diese bestimmte Körperpartie Teil von Sinners Verkümmerung, war sie Teil seiner Stärke, oder

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