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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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jeden Korridor, über jede Treppe des Gebäudes lief ein blutiger, durchsichtiger, glänzender Schlauch vom Umfang seines Torsos, ohne Anfang oder Ende, der beständig zitternd und würgend zuckte, die Teppiche befleckte und die Fenster beschmierte. Und immer wieder geschah es, dass sich eine Stelle dieses bestialischen Gedärms ohne ersichtlichen Grund zum Knoten schlang, der sich fester und fester zog, bis ein ganzer Turm oder Flügel des Gebäudes in sich zusammenfiel und den Hügel hinunterstürzte. Das Gebäude konnte jedes Mal wieder aufgebaut werden, aber man wusste nie, welcher Teil das nächste Mal verlorenging, und wenn man versuchte, den zähflüssigen Wurm mit einer Axt oder einem Hammer in zwei Teile zu hacken, wuchs er einfach wieder nach, und am nächsten Tag stellte man fest, dass er die Tür zur Vorratskammer versperrte oder sich unter den Laken des eigenen Bettes krümmte. Selbst als er sich ganz bewusst vorzustellen versuchte, wie der Schlauch zu Staub wurde und das Gebäude unbefleckt blieb, gelang es ihm nicht, den Gedanken länger als einen Augenblick festzuhalten, bevor er wieder das rote Fleisch sah.
    Zu der Zeit, als Sinner in seiner Wohnung lebte, erschien ihm das Bild längst nicht mehr so oft, aber nur, weil es von einem anderen abgelöst worden war. Wenn er jetzt dezidiert versuchte, an gar nichts zu denken, sah er häufig das Engelskind vor sich.
    Nach der Reise nach Polen im November und dem schrecklichen Vorfall im Bett mit Gittins war er für kurze Zeit zu den Selbstversuchen zurückgekehrt, fest davon überzeugt, dass es möglich sein müsste, nie wieder im Schlaf zu ejakulieren oder mit einer Erektion aufzuwachen. Das Verzehren eines halben Pfunds Lakritze am Tag hatte seine Libido nicht dämpfen können, aber er hatte entdeckt, dass er eine Art physiologisches Gleichgewicht herstellen konnte, wenn er etwa alle zehn Tage masturbierte.
    Es war jedoch schwierig zu masturbieren – wenn auch in Erskines Fall nicht aus den traditionellen moralischen Gründen. Die Bibel fand er nicht überzeugend, und der für seine Betreuung zuständige Lehrer in Winchester hatte bei einem kurzen, peinlichen Gespräch in seinem Arbeitszimmer nur ein einziges Mal auf den männlichen Sexualdrang angespielt. Dr.   Paisey hatte Erskine gefragt: »Kennst du den Unterschied zwischen einem Bullen und einem Ochsen?«, und als Erskine die Frage bejahte, hatte er ihn weggeschickt, offensichtlich in dem Gefühl, seine Pflicht erfüllt zu haben. Seit damals hatte Erskine viel über die Masturbation gelesen, weil die Frage oft in älteren Büchern über die Verbesserung der Rasse aufkam. Joseph Howe zum Beispiel behauptete, Masturbation verursache Akne, Blässe, stumpfe Augen, eine pelzige Zunge, Verstopfung, Tuberkulose, Epilepsie, Hypochondrie, Wahnsinn und – das war das Schlimmste – »geschwächtes Sperma«, durch das ausschließlich Kümmerlinge, Schwächlinge und Mädchen hervorgebracht würden. Es ging hauptsächlich auf den Einfluss von Howe und seiner Fraktion zurück, dass sich selbst die wohlhabendsten Internate in England weigerten, die offenen Schlafsäle, die grobe Bettwäsche, die türlosen Toiletten, das kalte Duschen und die ermüdenden, endlosen Stunden der körperlichen Ertüchtigung aufzugeben, obgleich die Maßnahmen inzwischen mehr dem Abhärten des männlichen Charakters dienen sollten als der Verhinderung der Selbstbefleckung. Sein Verstand sagte Erskine, dass es kaum medizinische Belege für Howes Behauptungen gab, aber dennoch konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass er als Pionier der Eugenik mit seinem Zeugungssaft nicht so sorglos umgehen sollte (obwohl er sich oft vor Augen führte, dass Galtons eigene Ehe kinderlos geblieben war). Also masturbierte er manchmal, und manchmal tat er es nicht, aber wenn er es tat, brauchte er große Disziplin, um zu verhindern, dass entweder der blutige Wurm in der Burg oder das Engelskind ungebeten in seinem Kopf auftauchten, bis hin zu dem Punkt, an dem er jede widerwillige Sitzung mit der verzweifelten Erklärung begann: »Ich denke nicht an …«
    Die Reise nach Polen aber hatte seine Experimentierfreude in mehr als einer Hinsicht erneuert. Er hatte Dutzende von lebenden Exemplaren des Käfers, den er in der Höhle entdeckt hatte, nach England mitgebracht. Wegen des Hakenkreuzes hatte er ihn zuerst Anophthalmus hitleri nennen wollen – aber dann entschied er, dass diese Art noch kein oberster Herrscher wie der Führer des Reiches war,

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