Flieh Wenn Du Kannst
Erst da neigte sich die Gestalt auf dem Bett aus den Schatten und winkte sie zu sich heran.
25
»Komm näher, damit ich dich sehen kann«, sagte die Gestalt, die eine Frau war. Ihre Stimme war überraschend kräftig.
Bonnie näherte sich langsam dem Bett. In dem hohen Spiegel über dem Kopfbrett des Bettes, das aus hellem Holz war, sah sie ihr Bild, das von dem kleineren Spiegel auf dem Toilettentisch an der gegenüberliegenden Wand zurückgeworfen wurde. Nur sah sie statt einer Frau in einem losen, cremefarbenen Kleid ein kleines Mädchen von elf Jahren, das ein weißes Baumwollkleidchen trug. Das schulterlange, braune Haar war mit einem glänzenden, rosafarbenen Band zum Pferdeschwanz gebunden.
»Wie geht es dir heute?« fragte das kleine Mädchen die Frau im Bett, als sie sich ihr vorsichtig näherte.
Schatten glitten wie Wellen über das Gesicht der Frau. »Leider nicht sehr gut.«
»Ich habe dir das Frühstück gebracht.« Das kleine Mädchen hob ein schweres Plastiktablett, um es der Frau zu zeigen.
»Ich kann nichts essen.«
»Willst du es nicht wenigstens versuchen? Ich habe es selbst gemacht. Zwei Spiegeleier, in der Mitte weich, wie du es gern hast.«
»Ich kann jetzt kein Ei essen.«
»Dann trink wenigstens ein bißchen Orangensaft.« Das kleine Mädchen stellte das Tablett ab und hielt der Frau das Glas hin.
»Du bist ein liebes Kind«, sagte die Frau und ließ sich in ihre Kissen zurückfallen, ohne das Glas in der Hand des Kindes zu beachten.
Das Kind trat noch näher und führte das Glas an die Lippen der Frau. »Hast du heute einen schlechten Tag?« fragte es.
»Ja. Leider.«
»Hast du Kopfschmerzen?«
»Migräne«, sagte die Frau. Sie hob ihre Hände an die Schläfen und schloß die Augen.
Licht und Schatten huschten über das Gesicht der Frau, verflüchtigten sich und nahmen alle Zeichen von Leben mit sich, so daß nur eine bleiche, leicht aufgedunsene Maske zurückblieb, die den Schmerz der Frau widerspiegelte. Irgendwo hinter all diesem Schmerz verborgen war eine schöne Frau, so stellte das Kind sich gerne vor, eine Frau mit blitzenden, blauen Augen und einem strahlenden, ansteckenden Lächeln.
Das Kind hob seine kleinen Hände zum Gesicht der Frau, strich ihr das dichte braune Haar aus der Stirn und massierte behutsam die Stellen über den hohen Wangenknochen.
»Nicht so fest«, sagte die Frau, und das Kind verminderte sofort den Druck seiner Finger. »So ist es besser. Hier.« Sie zeigte auf die Gegend rund um die leicht aufgeworfene Nase. »Ich habe vor Schmerzen fast die ganze Nacht wachgelegen. Dein Vater hat wahrscheinlich auch kaum geschlafen.« Sie öffnete ihre Augen. »Wo ist er eigentlich? Ist er schon weg?«
»Es ist nach elf«, sagte das Kind. »Er hat gesagt, er muß arbeiten.«
»Am Samstag?«
Das Kind massierte weiter, ohne etwas zu sagen.
»Er ist mit einer seiner Frauen unterwegs«, sagte die Mutter.
»Er hat gesagt, er muß arbeiten.«
»Schöne Arbeit!« Das Kind wich zurück. »Nein, hör nicht auf. Das tut gut. Du hast gute Finger. Wenn du mich massierst, fühle ich mich gleich viel besser.«
»Wirklich? Tut dir meine Massage gut?«
Plötzlich hallte lautes Getöse durch das Haus. Bonnie fuhr herum, so daß ihre erwachsene Gestalt mit der des Kindes im Spiegel zusammenstieß.
»Was war das?« hörte sie ihren Vater unten rufen.
»Es ist nichts, Steve«, rief Adeline zurück. »Mir ist eine Schüssel runtergefallen. Nicht weiter schlimm.«
»Was war das für ein Lärm?« fragte die Frau im Bett, als Bonnie in den Körper des elfjährigen Mädchens zurückkehrte.
»Das war Nick. Er spielt wieder mal Räuber und Gendarm«, antwortete das kleine Mädchen.
»Peng, peng!« rief Nick und stürmte mit gezückter Spielzeugpistole ins Zimmer. »Peng, peng! Jetzt seid ihr tot.«
»Nick, du mußt leise sein«, mahnte das kleine Mädchen. »Mami geht es heute nicht gut.«
»Peng, peng!« schrie Nick unbekümmert. »Ich hab’ euch erschossen. Ihr seid tot.«
»Ja, du hast mich erschossen«, bestätigte die Frau im Bett. Schwaches Lachen schwang in ihrer Stimme. »Jetzt bin ich tot.« Sie schloß die Augen und ließ den Kopf nach vorne sinken.
Nick lachte triumphierend und rannte von seiner elfjährigen Schwester gefolgt aus dem Zimmer. Bonnie, die am Fußende des Betts stand, blickte ihnen nach.
»Komm näher«, sagte die Frau im Bett wieder.
Bonnie straffte ihre Schultern und näherte sich dem Bett. Ihre Finger strichen über die himmelblaue
Weitere Kostenlose Bücher