Flieh Wenn Du Kannst
Bettdecke. Augenblicklich wucherten Blumen wie Unkraut überall auf dem Stoff. Bonnie starrte in den Spiegel und sah, wie ein anderes Bild Gestalt annahm, das Bild eines jungen Mädchens, das größer war, dessen Hüften und Busen sich schon gerundet hatten. Das Bild schwankte und waberte, wurde bald breiter, bald schmäler, so daß Bonnie sich an einen Gang durch ein Spiegelkabinett erinnert fühlte.
»Dein Vater hat uns verlassen«, sagte ihre Mutter vom Bett aus mit zornigem Gesicht.
»Er kommt wieder«, versicherte ihr das junge Mädchen.
»Nein.«
»Er braucht nur ein bißchen Zeit für sich. Er kommt bestimmt bald heim.«
»Nein, er kommt nicht zurück. Er ist bei ihr.«
»Bei ihr?«
»Bei der Frau, mit der er sich dauernd getroffen hat.«
»Aber er bleibt sicher nicht bei ihr.«
»Er kommt nicht zurück.«
Bonnie sah, wie sich die Augen des jungen Mädchens mit Tränen füllten. »Ich kümmere mich um dich, Mami«, hörte sie das Mädchen sagen.
»Ich habe am Freitag einen Termin bei Dr. Blend. Wie soll ich da hinkommen?«
»Ich bringe dich hin.«
»Ich habe Angst«, rief die Frau erregt, und das junge Mädchen eilte zu ihr ans Bett. »Mein Herz klopft wie wahnsinnig. Ich habe Angst, daß ich einen Herzinfarkt bekomme.«
»Was soll ich tun?«
»Bring mir meine Tabletten. Sie sind da neben dem Bett.«
Mit fliegenden Händen öffnete das junge Mädchen die kleine Flasche mit den roten und gelben Kapseln. Sie schüttete zwei in ihre offene Hand, hielt sie der Frau hin und sah zu, wie diese sie ohne Wasser mühelos hinunterschluckte.
»Geht’s dir wieder besser?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Was soll ich denn tun?«
»Nichts. Du bist ein gutes Kind.« Sie wischte sich mit dem Handrücken etwas Schweiß von der Stirn und sah sich im verdunkelten Zimmer um. »Wo ist Nicholas?«
»Er versteckt sich vor den Nachbarn«, sagte das junge Mädchen, das einerseits Angst hatte, seine Mutter aufzuregen, andererseits nicht lügen wollte. »Er hat Mrs. Gradowski Handschellen angelegt und die Schlüssel die Toilette runtergespült. Mr. Gradowski mußte einen Schlosser holen, um sie aufzukriegen. Er ist total wütend.«
Ihre Mutter lachte, amüsiert wie immer über Nicks übermütige Streiche. Er konnte tun, was er wollte, es war immer richtig. Das junge Mädchen schüttelte ungläubig und ein wenig bitter den Kopf, dann verschwand es.
»Ich kann dich immer noch nicht sehen«, sagte die Frau im Bett. »Du mußt näher kommen.«
Bonnie tastete sich am Bett entlang zum Kopfende vor. Doch da trat ihr jemand in den Weg, so daß sie nicht weiter konnte, eine junge Frau, mit der sie aufs Innigste vertraut war, wie ihr bewußt wurde, als sie mit der Frau verschmolz und deren ängstlich abwartende Haltung einnahm.
»Ich heirate«, sagte sie und wartete. »Mutter, hast du mich gehört? Ich habe gesagt, daß Rod und ich heiraten werden.«
»Ich habe dich gehört. Gratuliere.«
»Du scheinst nicht besonders erfreut zu sein.«
Ihre Mutter biß sich auf die Unterlippe. »Also läßt du mich jetzt auch im Stich«, sagte sie.
»Aber nein, bestimmt nicht. Niemand läßt dich im Stich.«
»Du ziehst aus.«
»Ich heirate.«
»Und wer soll sich dann um mich kümmern?«
»Dr. Monson hat gesagt, du könntest für dich selbst sorgen.«
»Ich gehe nicht mehr zu Dr. Monson.«
»Wir können eine Haushälterin engagieren.«
»Ich will keine fremden Leute in meinem Haus.«
»Es wird uns bestimmt eine Lösung einfallen. Bitte, Mutter,
ich möchte, daß du dich mit mir freust.«
Die Frau im Bett wandte ihren Kopf ab und weinte.
»Bitte, Mutter, wein jetzt nicht. Nicht gerade jetzt.« Bonnies Stimme wurde zwischen den beiden Spiegeln hin und her geworfen und brach sich in der Stille des Zimmers. »Kannst du dich denn nie mit mir freuen?«
»Setz dich, Bonnie«, sagte ihre Mutter, und Bonnie, die schon das Kind in ihrem Leib spürte, setzte sich nervös auf die Bettkante. »Wir müssen miteinander sprechen.«
»Du brauchst Ruhe, Mutter. Dr. Bigelow hat gesagt...«
»Dr. Bigelow hat keine Ahnung. Hast du denn in all den Jahren überhaupt nichts dazugelernt?«
»Er hat gesagt, du hättest einen Schlaganfall gehabt. Und er sei schlimmer als der letzte...«
»Ich möchte mit dir über mein Testament sprechen.«
»Bitte, Mutter, können wir darüber nicht sprechen, wenn es dir wieder ein wenig besser geht?«
»Ich muß mit dir sprechen, damit du es verstehst.«
»Damit ich was verstehe?«
»Meinen
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