Flieh Wenn Du Kannst
Beine an. »Vielleicht war es Haze. Vielleicht hat er Sam in alles hineingezogen.« Sie brach ab. Versuchte sie ihren Mann zu überzeugen oder sich selbst? »Ich kann einfach nicht glauben, daß Sam ein Mörder ist«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Ich war in den letzten Wochen viel mit ihm zusammen, und ich kann einfach nicht glauben, daß er so etwas tut. Er ist ein sanfter Junge, Rod. Er ist unglücklich und er ist einsam, aber er ist kein Psychopath. Niemals hätte er seine Mutter ermorden können. Niemals hätte er Diana vergewaltigen und erschießen können.«
Rod warf sich auf die andere Seite und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen, das sein Schluchzen nur ein wenig dämpfte. Bonnie betrachtete seinen zitternden Rücken, seine zuckenden Schultern. Sie wollte sich über ihn werfen, um ihn zu wärmen und zu beschützen. Es wird ja alles gut, wollte sie sagen, wie Lauren es am vergangenen Abend zu ihm gesagt hatte. Aber sie konnte es nicht. Eine unsichtbare Hand hielt sie zurück, drückte sie in ihre eigene kleine Ecke, erlaubte ihr nicht, sich ihrem Mann zu nähern. Was hielt sie davon ab, den Mann zu trösten, den sie liebte?
»Es wird bestimmt alles gut, Rod«, sagte sie, aber die Worte klangen hohl, sie merkte es selbst.
Rod weinte leise.
Weinte er um seinen Sohn oder um sich selbst? Oder um sie beide? Um die Beziehung, die es zwischen ihnen nie gegeben hatte; um die Beziehung, die es nun wahrscheinlich niemals geben würde? Es war zu spät, zu spät, den liebenden Vater zu spielen, zu spät, all die verlorenen Jahre nachzuholen, zu spät, eine Bindung zu festigen, die nie bestanden hatte.
Oder vielleicht doch nicht, dachte Bonnie, die doch aus eigenem Erleben wußte, daß ein Kind die Sehnsucht nach einem Vater nie verlor. Vielleicht war es nie zu spät für einen Vater, seinem Kind die Hand zu reichen.
»Rod...«
Er setzte sich auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Als er sich ihr zuwandte, schienen seine braunen Augen so stumpf und trübe zu sein wie das Wasser eines schlammigen Flusses.
»Rod, bitte, sag es mir.«
»Die Polizei wird Untersuchungen durchführen«, sagte er, als führte er ein ganz anderes Gespräch.
»Wie meinst du das?«
»Blutproben, Spermaproben«, fuhr er tonlos fort. »Für die DNA-Tests.«
»Ja«, sagte Bonnie, die nicht wußte, worauf Rod hinaus wollte.
»Es ist aus«, sagte er. »Alles ist aus.«
»Rod, wovon redest du?«
Er schwieg lange.
»Sam hat Diana nicht vergewaltigt«, sagte er schließlich. »Und Haze auch nicht.«
»Was?«
»Das Sperma, das sie in Dianas Körper finden werden, stammt nicht von Sam«, wiederholte er.
Bonnie wurde sich plötzlich bewußt, daß sie vom Bett glitt und langsam zur Wand zurückwich, obwohl sie kaum den Teppich unter ihren Füßen spürte. »Was sagst du da?«
»Ich glaube, du weißt es schon«, antwortete er.
Einen Moment lang verschlug es Bonnie die Sprache, dann flüsterte sie heiser: »Willst du sagen, daß es dein Sperma ist?«
Rod schwieg.
»Willst du mir sagen, daß du sie getötet hast?« Bonnie blickte zur Tür, zählte im stillen, wie viele Schritte sie brauchen würde, um aus dem Zimmer zu kommen.
»Nein!« erwiderte Rod heftig, plötzlich aus seiner Lethargie erwachend. »Aber die Polizei wird das natürlich glauben, das ist sicher. Sie werden es nicht erwarten können, mich in die Finger zu kriegen.« Er lachte heiser.
»Ich verstehe nicht.«
»Ich hab’ Diana nicht getötet, Herrgott noch mal. Niemals hätte ich ihr etwas antun können.« Sein Gesicht zeigte unverhüllten Schmerz. »Ich habe sie geliebt«, flüsterte er und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich habe sie geliebt«, wiederholte er, und diesmal klangen seine Worte so klar und kalt wie ein Gebirgsbach.
»Du hast Diana geliebt«, sagte Bonnie und wartete darauf, daß Rod fortfahren würde, aber er sagte nichts mehr, starrte sie nur mit diesem stumpfen Blick an. »Wie lange...?«
»Ungefähr ein Jahr.«
»All die langen Abende im Studio, all die Besprechungen am frühen Morgen...«
Rod nickte nur.
»Aber du hast doch Diana nie gemocht«, protestierte Bonnie schwach. Ihr war, als hätte sich der Boden unter ihr aufgetan, als hinge sie im Nichts, und es wäre nur noch eine Frage der Zeit, ehe es sie aufsaugen und ganz verschlingen würde.
»Es ist einfach passiert, Bonnie.« Rod hob die Hand und ließ sie einen Moment in der Luft hängen, ehe er sie wieder herabfallen ließ.
Was hätte er auch sagen können?
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