Flieh Wenn Du Kannst
habe? Das alles sagte Bonnie natürlich nicht laut. Manche Dinge ließen sich einfach nicht am Telefon sagen.
»Ich würde gern später einen Sprung bei Ihnen vorbeikommen, wenn es Ihnen paßt«, sagte Josh, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Gern«, antwortete Bonnie. »Ich würde mich freuen.«
»In einer Stunde?«
»In Ordnung.«
»Gut, bis dann.«
Bonnie legte auf. Sie freute sich auf Joshs Besuch. Obwohl ich ihn gestern noch in Verdacht hatte, mir vergiftete Bouillon gebracht zu haben, schoß es ihr durch den Kopf. Sie warf einen Blick auf das Telefon und überlegte, ob sie ihn zurückrufen und ihn bitten sollte, lieber nicht zu kommen. »Das ist ja idiotisch«, sagte sie laut. Nicht Josh hatte versucht sie zu vergiften. Und es war nicht Josh, der Diana getötet hatte. Was für ein Motiv hätte er denn haben sollen? Trotzdem, dachte sie, schon zum Telefon greifend, sicher ist sicher. Sie würde ihren Bruder anrufen, ihm die Situation erklären und ihn bitten, etwa zu der Zeit vorbeizukommen, für die Josh sein Kommen angekündigt hatte.
Gerade als sie den Hörer abnehmen wollte, läutete das Telefon.
»Wir sind fertig!« rief Lauren aus dem Flur. Die beiden Mädchen sprangen die letzten Stufen der Treppe hinunter, Lauren mit ihrer großen Umhängetasche über der Schulter, Amanda mit einer Barbietasche über ihrer.
Bonnie nahm den Telefonhörer ab. »Hallo?«
Niemand meldete sich. »Hallo?« sagte sie wieder.
Es blieb weiterhin still.
»Sollen wir vielleicht noch etwas einkaufen?« fragte Lauren.
»Sieh doch mal nach, ob wir Milch brauchen«, erwiderte Bonnie.
Lauren ging zum Kühlschrank, machte ihn auf, sah hinein. »Nein, Milch ist genug da.«
»Hallo?« wiederholte Bonnie ein drittes Mal und verstand selbst nicht, warum sie nicht einfach auflegte. Gerade als sie es tun wollte, hörte sie das nun schon vertraute Klappern am anderen Ende der Leitung. Was war das nur? Sie kannte dieses Geräusch, aber sie wußte nicht, woher.
»Wer ist denn dran?« fragte Lauren und sah sie mit ihren großen hellbraunen Augen ängstlich an.
»Wer ist am Apparat, bitte?« sagte Bonnie.
Schweigen, dann wieder ein Klappern. Klick. Dann noch einmal.
Klick. Klick.
Bonnie hielt den Atem an. Ihr war, als triebe sie auf einem windstillen Meer und wartete ungeduldig auf die nächste Bö, die sie ans Ufer treiben würde. Sie war so nahe. Nur ein leichter Anstoß war nötig.
Klick.
Da sah sie plötzlich sich selbst, wie sie ihren Wagen eine lange Auffahrt hinauffuhr, ihn auf einem großen Parkplatz abstellte und dann auf ein großartiges weißes Haus zuging. Verblichene Pracht des alten Südens, hatte sie gedacht, als sie es das erstemal gesehen hatte. Sie sah sich zu, wie sie durch das große Foyer zum Empfang ging, dann ungeduldig vor den Aufzügen wartete, vor der Tür zu Zimmer 312 zögerte.
Klick.
Sie sah, wie die Tür sich öffnete, sah die alte Frau im Rollstuhl, die ihre Zahnprothese auf der Zunge hin und her schob, ehe sie sie klappernd wieder einpaßte.
Klick. Klick.
»Mary?« fragte Bonnie. »Mary, sind Sie das?«
»Vielleicht«, kam die Antwort. »Wer fragt?«
32
Fünfzehn Minuten später parkte Bonnie vor der Melrose Klinik in Sudbury und rannte die Treppe hinauf, durch das Foyer, zu den Aufzügen auf der rechten Seite. Dort warteten bereits einige Besucher, und Bonnie lehnte sich an die Wand, um Atem zu holen und sich zu sammeln.
Was hatte sie hier noch zu tun? Was hatte sie veranlaßt, aus dem Haus zu stürzen, sobald Lauren und Amanda in den Park gegangen waren. Hierher zu rasen wie eine Wahnsinnige? Sie war noch längst nicht wieder gesund, und da riskierte sie ihr Leben, um mit einer verrückten alten Frau zu reden, die ihr höchstwahrscheinlich überhaupt nichts mitzuteilen hatte, was von irgendeinem Nutzen sein könnte.
Am Telefon hatte sie jedenfalls nichts gesagt. Da hatte nur Bonnie geredet. Gefragt, warum sie anrufe; ob sie etwas zu sagen habe; ob sie mit ihr über Elsa Langer sprechen wolle.
Die Antwort war immer die gleiche gewesen: Vielleicht. Wer fragt?
Und nun war sie hier, umgeben von einem Haufen fremder Leute, deren Gesichter deutlich verrieten, daß sie alle viel lieber anderswo wären. Was hoffte sie denn von dieser alten Frau zu erfahren?
Es bimmelte einmal kurz; über einer der Aufzugtüren leuchtete ein grünes Licht auf; die Tür öffnete sich langsam. Leute drängten hinaus, und Leute drängten hinein, und im Nu war der Aufzug voll, die Tür schloß sich, und
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