Flieh Wenn Du Kannst
weiter an die gegenüberliegende Wand.
»Daddy!« rief Lauren ängstlich. Sie lief zu ihrem Vater und umschlang ihn mit beiden Armen. Sie drückte ihn so fest an sich, als wollte sie ihm Leben einhauchen. »Komm, Daddy«, flüsterte sie und küßte ihn auf die Wange. »Komm, ich geh’ mit dir hinauf.«
Rod ließ sich von seiner Tochter aus dem Zimmer führen. Bonnie sah ihnen nach, wie sie langsam die Treppe hinaufgingen.
»Du solltest wirklich ins Krankenhaus gehen«, sagte Nick zu ihr.
»Erst wenn alles hier erledigt ist. Erst wenn ich weiß, daß Amanda nichts passieren kann.«
»Die beiden werden nicht weit kommen«, bemerkte Mahoney. »Zwei langhaarige Teenager in einem roten Mercedes. So was fällt auf.«
Bonnie schüttelte den Kopf. Wo konnten sie sein? Wohin wollten sie? Warum sollten sie Diana getötet haben?
Warum? fragte sie sich immer wieder. Warum das alles? Nichts ergab einen Sinn. Sam war vielleicht nicht gerade der Sohn, den man sich erträumte – er hatte einen Ring in der Nase und eine Schlange in seinem Zimmer, er war verschlossen und zornig, launisch und schüchtern. Aber er war auch sensibel und liebevoll und hilfsbereit und wünschte sich verzweifelt, geliebt zu werden.
War es deswegen so weit gekommen? Hatte er in seiner Sehnsucht nach Liebe Dianas Freundlichkeit falsch aufgefaßt? Hatte seine aufgestaute Wut sich Luft gemacht, als sie seine ungeschickten Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte? Hatte er sie vergewaltigt und dann getötet, damit sie ihn nicht verraten konnte? War dieser Mord eine Affekthandlung gewesen oder Teil eines größeren Plan?
Oder war vielleicht Haze der wahre Schuldige? Würde man seine Spermien in Dianas Körper finden? Das sei der einfache Teil, hatte Captain Mahoney gesagt. Wenn Diana vergewaltigt worden war, würde sich mit Hilfe der DNA-Proben der Schuldige leicht feststellen lassen.
»Es ist bald vorbei«, sagte Nick zu ihr.
Bonnie nickte und hoffte, daß er recht hatte. Sie stand auf und ging zur Treppe. Nick folgte ihr. Captain Mahoney und Detective Haver blieben am Eßzimmertisch sitzen.
»Dad wäre sicher froh, wenn du ihn anrufen würdest«, sagte Nick draußen im Flur. »Er macht sich seit deinem Besuch große Sorgen um dich. Er weiß, daß du Probleme hast, und ich glaube, es wäre ihm eine große Erleichterung, wenn du ihn anrufen würdest.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, Nick. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft dazu habe.«
»Also, was deine Kraft angeht, bin ich absolut zuversichtlich«, erwiderte Nick. »Du bist eine unheimlich starke Frau, Bonnie. Wenn dich eine Ladung Arsen nicht fertigmachen konnte, brauchst du auch einen harmlosen alten Mann, der dich liebt, nicht zu fürchten.« Er schwieg einen Moment und sprach dann mit ernstem Nachdruck weiter. »Für die Toten können wir nichts mehr tun, Bonnie. Aber wir können lernen, den Lebenden mehr Beachtung zu schenken.«
Er blieb stehen und breitete einladend die Arme aus. Langsam ließ Bonnie sich an ihn sinken. Nach ein paar Sekunden hob sie den Kopf und gab ihm einen Kuß auf die Nasenspitze. Dann löste sie sich und folgte ihrem Mann die Treppe hinauf.
Er lag auf dem Bett, als sie ins Zimmer kam, und Lauren war dabei, ihm die Schuhe auszuziehen.
»Er wollte sich nicht ausziehen«, sagte sie.
Schweigend betrachtete Bonnie ihren Mann. In beinahe fötaler Haltung lag er auf dem Bett, die Augen geöffnet, auch wenn er offensichtlich nichts wahrzunehmen schien. Bonnie versuchte sich vorzustellen, was er durchmachte. Wie würde sie sich fühlen, wenn ein Polizeibeamter ihr mitteilen würde, daß ihr Kind ein psychopathischer Mörder war, der zwei Menschen getötet und zwei weitere zu vergiften versucht hatte?
»Wie fühlst du dich denn?« fragte Bonnie ihre Stieftochter.
Lauren zuckte mit den Achseln. »Glaubst du, sie werden Sam finden?«
»Ich bin überzeugt davon.«
»Ich hab’ solche Angst.« Lauren fing leise an zu weinen. »Ich hab’ solche Angst, daß sie ihn erschießen.«
Bonnie ging zu ihr und nahm sie in den Arm. »Niemand wird irgend jemanden erschießen«, sagte sie. »Ich glaube, uns allen wird jetzt etwas Schlaf guttun. Es war ein langer Tag.«
Lauren ging zum Bett und gab ihrem Vater einen Kuß auf die Stirn. »Bis morgen, Daddy. Du wirst sehen, jetzt wird alles gut.«
Auf Zehenspitzen ging sie zur Tür, dort blieb sie noch einmal stehen. »Ich hab’ dich lieb, Daddy«, sagte sie und war verschwunden.
Bonnie ging zum Telefon neben dem Bett.
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