Fliehe weit und schnell
haben Sie meine Schuhe aufgesammelt?« fragte er. »Ich kann sie nicht finden.«
»Nein, Kommissar, ich habe sie nicht gesehen.«
»Dann eben nicht«, sagte Adamsberg und stieg vorne ein. »Wir werden nicht die ganze Nacht damit verbringen, nach ihnen zu suchen.«
Estalère fuhr los. Der junge Mann hatte aufgehört, seine Unschuld zu beteuern, so als hätte ihn die unerschütterliche Masse Retancourts neben ihm entmutigt.
»Setzen Sie mich bei mir ab«, bat Adamsberg. »Sagen Sie der Nachtschicht, sie sollen mit dem Verhör von Antoine Hurfin Heller-Deville, oder wie immer sein Name lauten mag, anfangen.«
»Hurfin«, knurrte der junge Mann. »Antoine Hurfin.«
»Feststellung der Identität, Hausdurchsuchung, Alibis und alles, was dazugehört. Ich werde mich um diese verdammte Holzkohle kümmern.«
»Wo?« fragte Retancourt.
»Im Bett.«
Adamsberg streckte sich in der Dunkelheit aus und schloß die Augen. Drei Gipfel ragten aus seiner Müdigkeit und den dichten Wolken der Tagesereignisse empor. Die Kekse von Clémentine, das ertrunkene Handy, die Holzkohle. Er verscheuchte die Kekse, die für die Ermittlung bedeutungslos waren, aber für den Seelenfrieden des Pestbereiters und seiner Großmutter sprachen, aus seinen Gedanken. Sein ertrunkenes Handy suchte ihn heim wie eine in den Abgrund gerissene Hoffnung, ein Wrack, wie ein Schiffbruch, der in Joss Le Guerns Blättern aus der Geschichte hätte vorkommen können.
Mobiltelefon Adamsberg, drei Tage Akku-Unabhängigkeit, ohne Fracht aufgebrochen in der Rue Delambre, erreicht Canal Saint-Martin und sinkt vor Anker. Mannschaft verloren. Eine Frau an Bord, Camille Forestier, verloren.
Einverstanden. Ruf nicht an, Camille. Geh. Alles ist egal.
Blieb die Holzkohle.
Man kam immer wieder darauf zurück. Fast ganz an den Anfang zurück.
Damas war ein ausgezeichneter Pestologe und hatte einen gewaltigen Schnitzer begangen. Diese beiden Feststellungen waren unvereinbar. Entweder hatte Damas in punkto Pest kaum eine Ahnung und beging einen Fehler, wie er jedem hätte unterlaufen können, indem er die Haut seiner Opfer schwärzte. Oder Damas hatte Ahnung, dann hätte er sich nie einen solchen Fehler erlaubt. Nicht ein Typ wie Damas. Nicht ein Typ, der alten Texten eine derartige Ehrfurcht entgegenbrachte, daß er alle von ihm vorgenommenen Kürzungen angab. Nichts zwang Damas dazu, diese Auslassungspunkte einzuführen, die dem Ausrufer das Vorlesen der ›Speziellen‹ so erschwerten. Dann lag alles, dort in der Tiefe, in diesen kleinen Punkten, die wie die ins Auge springenden Zeichen der Ergebenheit eines Gelehrten gegenüber dem Originaltext eingefügt waren. Die Ergebenheit eines Pestologen. Den Text eines alten Autors zerstückelt man nicht, man nimmt ihn nicht nach Gutdünken auseinander, als handele es sich um etwas x-beliebiges. Man ehrt und respektiert ihn, man betrachtet ihn mit der Hochachtung eines Gläubigen, man betreibt keine Blasphemie. Ein Typ, der Auslassungspunkte setzt, schwärzt die Leichen nicht mit Kohle, begeht keinen gewaltigen Schnitzer. Das wäre eine Kränkung, eine Beleidigung der Geißel Gottes, die in seinen götzendienerischen Händen lag. Wer sich für den Herrn über einen Glauben hält, wird zu dessen Frömmler. Damas nutzte die Macht der Journots, aber er war der allerletzte, der sich über sie hätte hinwegsetzen können.
Adamsberg stand auf und ging in seinen beiden Zimmern umher. Damas hatte die alten Texte nicht zerstückelt. Damas hatte die Auslassungspunkte gesetzt. Also hatte Damas die Leichen nicht mit Kohle geschwärzt.
Also hatte Damas nicht getötet. Die Kohle verdeckte die Strangulationsmale. Es war die letzte Geste des Mörders, und nicht Damas hatte sie vollzogen. Weder hatte er die Opfer geschwärzt noch erwürgt. Noch ausgezogen. Noch eine Tür aufgebrochen.
Adamsberg blieb vor seinem Telefon stehen. Damas hatte nur das ausgeführt, woran er glaubte. Er war Herr über die Geißel und hatte Anzeigen verbreitet, Vieren gemalt und Pestflöhe ausgesetzt. Anzeigen, die die Rückkehr einer echten Pest garantierten, welche ihn entlastete. Anzeigen, die die öffentliche Meinung verstörten und ihm seine Allmacht zurückgaben. Anzeigen, die Verwirrung verbreiteten und ihm freie Hand ließen. Das Zeichen der Vier begrenzte die Schäden, die er anzurichten glaubte, und beruhigte das Gewissen dieses imaginären und gewissenhaften Mörders. Ein Meister agiert bei der Auswahl seiner Opfer nicht im ungefähren. Die Vieren
Weitere Kostenlose Bücher