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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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und näherte sich einem der Leere ähnelnden Dämmerzustand. Nach zehn Minuten schreckte er hoch, suchte in seinen Schubladen nach der Liste mit seinen siebenundzwanzig Mitarbeitern und bemühte sich, deren Namen, von Danglard abgesehen, auswendig zu lernen, indem er sie leise vor sich her sagte. Dann notierte er am Rand »Ohren, Brutalität, Noèl« und »Nase, Augenbrauen, Frauen, Favre«.
     
    Er verließ sein Zimmer wieder, um den Kaffee zu trinken, den er vor seiner Begegnung mit Maryse hatte trinken wollen. Weder die Kaffeemaschine noch der Imbißautomat waren bisher geliefert worden, die Männer hatten alle Mühe, ein paar Stühle und Papier zu finden, Elektriker installierten die Anschlüsse für die Computer, und soeben wurden die ersten Gitterstäbe an den Fenstern angebracht. Noch keine Gitter, folglich noch kein Verbrechen. Die Mörder würden sich bis zur Fertigstellung der Arbeiten zurückhalten. Also konnte man auch hinausgehen, träumen und auf dem Bürgersteig jungen Frauen helfen, die mit den Nerven fertig waren. Man konnte auch hinausgehen und an Camille denken, die er mehr als zwei Monate nicht mehr gesehen hatte. Wenn er sich nicht täuschte, mußte sie morgen oder übermorgen zurückkommen, er erinnerte sich nicht mehr an das genaue Datum.
     

5
     
    Am Dienstagmorgen ging Joss sehr vorsichtig mit dem Kaffeepulver um und vermied jede heftige Bewegung. Er hatte schlecht geschlafen, daran war natürlich dieses freie Zimmer schuld, das unerreichbar vor seinen Augen tanzte.
    Er setzte sich schwerfällig an den Tisch vor seine Kaffeeschale, sein Brot und seine Wurst und unterzog die fünfzehn Quadratmeter, in denen er wohnte, einer feindseligen Prüfung: die rissigen Wände, die Matratze auf dem Fußboden, die Toilette auf halber Treppe. Natürlich hätte er sich mit seinen neuntausend Franc ein bißchen was Besseres leisten können, aber fast die Hälfte davon ging jeden Monat nach Le Guilvinec zu seiner Mutter. Man hat es nicht warm, wenn man weiß, daß die Mutter friert, so ist das Leben, genau so einfach und so kompliziert. Joss wußte, daß der Gelehrte keine sehr hohe Miete verlangte, weil man dort privat wohnte und weil es unter der Hand lief. Außerdem, das mußte man schon zugeben, war Decambrais keiner von den Ausbeutern, die einem für vierzig Kubikmeter in Paris das Fell abzogen. Lizbeth wohnte im Austausch für die Einkäufe, das Abendessen und das Putzen des gemeinsamen Badezimmers sogar umsonst. Decambrais kümmerte sich um alles übrige, saugte und wischte in den Gemeinschaftsräumen, deckte den Frühstückstisch. Man mußte anerkennen, daß der Gelehrte trotz seiner siebzig Jahre keine Mühe scheute.
    Joss kaute langsam sein eingetunktes Brot, während er mit halbem Ohr dem leise laufenden Radio lauschte, um den Seewetterbericht nicht zu verpassen, den er sich jeden Morgen notierte. Bei dem Gelehrten zu wohnen hatte nur Vorteile. Zum einen war es nur einen Steinwurf von der Gare Montparnasse entfernt, für den Fall, daß. Dann waren die Zimmer geräumig, sie hatten Heizkörper, Betten mit Gestell, Eichenparkett und abgenutzte Teppiche mit Fransen. Nachdem Lizbeth dort eingezogen war, hatte sie am Anfang mehrere Tage mit bloßen Füßen auf den warmen Teppichen verbracht, aus reinem Vergnügen. Und dann natürlich war da auch das Abendessen. Joss konnte nur Barsch grillen, Austern öffnen und Strandschnecken schlürfen. Was dazu führte, daß er Abend für Abend Konserven aß. Und schließlich gab es Lizbeth, die im Nachbarzimmer schlief. Nein, er hätte Lizbeth nie angerührt, nie seine rauhen, fünfundzwanzig Jahre älteren Hände auf sie gelegt. Das mußte man auch Decambrais anrechnen, der hatte sie immer respektiert. Lizbeth hatte ihm eine schreckliche Geschichte erzählt, die vom ersten Abend, wo sie sich auf den Teppich gelegt hatte. Und der Vornehme hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Hut ab. So was nannte man Schneid. Und wo der Vornehme Schneid bewies, würde Joss das auch tun. Die Le Guerns waren vielleicht eine rohe Sippe, aber keine Gauner.
     
    Genau das war der wunde Punkt. Decambrais hielt ihn für einen Rohling und würde ihm niemals die Bude überlassen, also war es sinnlos, davon zu träumen. Genau wie von Lizbeth, vom Abendessen, von den Heizkörpern.
     
    Als er eine Stunde später seine Urne leerte, dachte er noch immer daran. Er entdeckte den dicken, elfenbeinfarbenen Umschlag sofort und schlitzte ihn rasch mit dem Daumen auf. Dreißig Francs. Die Tarife

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