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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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machte Lizbeth dem Ausrufer Vorhaltungen.
    »Du bist heute spät dran, Joss«, sagte sie mit zurückgebogenem Oberkörper, den Kopf zu ihm emporgereckt.
    »Ich weiß, Lizbeth«, keuchte der Ausrufer außer Atem. »Das liegt am Kaffeesatz.«
    Lizbeth war mit zwölf Jahren dem Schwarzenghetto von Detroit entrissen und gleich nach ihrer Ankunft in der französischen Hauptstadt in ein Bordell gesteckt worden, wo sie vierzehn Jahre lang auf dem Straßenstrich der Rue de la Gaìté Französisch gelernt hatte. Bis zu dem Tag, an dem alle Peep-Shows des Viertels sie wegen ihrer Korpulenz vor die Tür gesetzt hatten. Zehn Nächte hatte sie bereits auf einer Bank auf dem Platz verbracht, als Decambrais an einem kalten, regnerischen Abend beschlossen hatte, sie dort aufzusuchen. Von den vier Zimmern, die er im Obergeschoß seines alten Hauses vermietete, war eines frei. Er hatte es ihr angeboten. Lizbeth hatte eingewilligt, sich, kaum war sie im Zimmer, ausgezogen, mit im Nacken verschränkten Armen, den Blick zur Decke gerichtet, auf den Teppich gelegt und darauf gewartet, daß der Alte der Aufforderung nachkam.
    »Das ist ein Mißverständnis«, hatte Decambrais gemurmelt und ihr ihre Kleider hingestreckt. »Ich habe nichts anderes zum Bezahlen«, hatte Lizbeth geantwortet und sich mit übereinandergeschlagenen Beinen aufgerichtet. »Ich komme mit dem Haushalt, dem Abendessen für die Pensionsgäste, den Einkäufen, dem Servieren hier nicht mehr zurecht«, hatte Decambrais, den Blick starr auf den Teppich geheftet, gesagt. »Helfen Sie mir ein bißchen, und ich überlasse Ihnen das Zimmer.« Lizbeth hatte gelächelt, und Decambrais hätte sich beinahe an ihren Busen geworfen. Aber er fand sich alt, und er war der Ansicht, die Frau habe ein Recht auf Ruhe. Diese Ruhe hatte Lizbeth sich genommen: Sechs Jahre war sie jetzt da, und er wußte von keiner Liebschaft. Lizbeth erholte sich, und er betete darum, daß das noch ein bißchen andauern möge.
     
    Das Ausrufen hatte begonnen, und eine Anzeige folgte auf die nächste. Decambrais merkte, daß er den Anfang verpaßt hatte, der Bretone war bereits bei Anzeige Nr. 5. Das war das System. Man merkte sich die Nummer, die einen interessierte, und wandte sich an den Ausrufer ›wegen weiterer diesbezüglicher‹ Einzelheiten. Decambrais fragte sich, wo er diesen Gendarmerieausdruck wohl aufgeschnappt haben mochte.
    »Fünf«, rief Joss. »Verkaufe einen Wurf Katzen, drei Kater, zwei Katzen. Sechs: Diejenigen, die gegenüber von Haus Nr. 36 mit ihrer Urwaldmusik die ganze Nacht Radau machen, werden gebeten, damit aufzuhören. Manche Leute möchten schlafen. Sieben: Tischlereiarbeiten aller Art, Restaurierung alter Möbel, bestes Ergebnis, Abholung und Lieferung. Acht: Strom- und Gaswerke sollen sich zum Teufel scheren. Neun: Die Kammerjäger sind die reinsten Abzocker: Hinterher gibt es genauso viele Kakerlaken wie vorher, aber dafür wollen sie sechshundert Francs. Zehn: Ich liebe dich, Hélène. Ich warte heute abend auf dich im ›Chat qui danse‹. Bernard. Elf: Schon wieder ein verregneter Sommer, und jetzt ist schon September. Zwölf: An den Fleischer am Platz: Das Fleisch gestern war zäh, und das zum drittenmal diese Woche. Dreizehn: Jean-Christophe, komm zurück. Vierzehn: Bullen gleich korrupt gleich Dreckskerle. Fünfzehn: Verkaufe Äpfel und Birnen aus dem Garten, aromatisch, saftig.«
    Decambrais warf Lizbeth einen Blick zu, die sich die Zahl 15 notierte. Seitdem es den Ausrufer gab, fand man ausgezeichnete Ware zu moderaten Preisen, was sich als vorteilhaft für das Abendessen der Pensionsgäste erwies. Decambrais hatte ein Blatt Papier zwischen die Seiten seines Buches gesteckt und wartete, einen Bleistift in der Hand. Seit einiger Zeit, drei Wochen vielleicht, deklamierte der Ausrufer ungewöhnliche Texte, die ihn nicht stärker zu irritieren schienen als der Verkauf von Äpfeln oder Autos. Diese außergewöhnlichen, raffinierten, absurden oder bedrohlichen Botschaften tauchten jetzt regelmäßig in der Morgenausgabe auf. Vor zwei Tagen hatte Decambrais sich entschlossen, sie sich unauffällig zu notieren. Sein vier Zentimeter langer Bleistift verschwand vollständig in seiner Hand.
    Der Ausrufer begann gerade mit der Wetterberichtpause. Er verkündete den Wetterbericht, indem er von seinem Podest aus mit emporgestreckter Nase den Himmel studierte, und endete dann mit einem Seewetterbericht, der für alle Umstehenden absolut nutzlos war. Aber niemand, nicht einmal

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