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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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die Jahreszeit gewechselt. Die Wolken ließen kein Loch zum Durchgucken. Alles schien grau, Himmel, Bäume, die schlichte, schmucklose Sandsteinfassade des Schlosses. Ich ging schneller, unter den Fichten hindurch, weg von der gepflasterten Auffahrt, die ins Dorf führte. Dort war ich gestern Abend entlanggegangen, mit Verdi in den Ohren. Abgeschottet von der wirklichen Welt.
    Nah am Schloss war der Rasen ordentlich gemäht, die Beete wie mit dem Lineal ausgerichtet. Weiter weg durfte sich der Wildwuchs entfalten. Brombeerranken und hüfthohe Brennnesseln schirmten den Dschungel vom Schloss ab. Die Gräfin liebte es naturnah. Sie war stolz auf die vielen Holunderbüsche, deren Zweige schwer von den prallen Dolden herabhingen, die wilden Himbeeren, das Wespennest im alten Kirschbaum, die Nuss- und Birnbäume, die, vor Jahrzehnten angepflanzt, in diesem Spätsommer ebenfalls reiche Ernte versprachen.
    Am liebsten verbrachte ich meine Pausen und freien Minuten am Bach, der das Grundstück gut 500 Meter hinter dem Anwesen auf der Grenzlinie zwischen dem Schloss und dem Wald der Gemeinde Rothenstayn begleitete und schließlich durch eine buckelige Wiese dem Ort zuströmte. Es hatte in der Nacht geregnet, und ich hörte das Rauschen des Wassers, noch bevor ich es sah. Hier standen Rotbuchen dicht an dicht. Haselbüsche, Holunder, Schlehenbüsche und Sträucher voller Mehlbeeren. Vorgestern hatte ich einen Durchschlupf entdeckt, um zum Bach zu gelangen, ohne mir die Kleider zu zerfetzen oder mit Kletten bestückt ins Schloss zurückzukommen. Zwischen zwei Schlehenbüschen lagerte ein Haufen moosiges, nasses Feuerholz, das vielleicht ein paar Kinder, die zum Spielen auf das Grundstück gekommen waren, dort vergessen hatten. Ich hatte es beiseitegeräumt und mir so einen Weg zum Wasser gebahnt.
    Heute sah der Durchschlupf anders aus als sonst. Schlehenzweige waren abgerissen, der Boden mit Blättern und halbreifen Früchten übersät. In der feuchten Erde entdeckte ich Abdrücke. Als habe jemand etwas sehr Schweres durch die Hecke gezerrt.
    Rasch bog ich die Zweige zurück.
    Ich sah einen Gartenschuh und Jeansstoff. Zwängte mich an den Büschen vorbei.
    »Gräfin?«
    Sie lag am Bachufer, und ich dachte, sie wäre tot. Sie regte sich nicht. Ihr Gesicht war voller Blut, auch die Bluse, das Haar, die Erde, auf der sie lag. Ihre Augen waren geschlossen, die Lider verklebt vom Blut. Ich kniete mich neben sie, mit den Füßen im Bach, und rief ihren Namen. Presste meine Finger an ihren Hals. Hielt eine Hand vor ihren Mund. Spürte einen hauchzarten Luftzug. Die ganze linke Seite ihres Schädels schien aufgerissen, eingedrückt, zerschmettert.
    Das Rauschen des Wassers dröhnte in meinen Ohren. Aber ich hörte auch noch etwas anderes. Jenseits des Baches. Später konnte ich niemandem erklären, was, und so glaubte mir keiner oder hielt meine Hinweise für die Halluzinationen einer überspannten Frau, die sich dem entscheidenden 40. Geburtstag näherte. Mein Kopf flog herum. Ich blickte über den Bach. An dieser Stelle maß er gerade mal zwei Meter in der Breite. Das gegenüberliegende Ufer stand, genauso wie das Schlossgrundstück, voller Bäume und Sträucher.
    Jemand lief weg. Durch den Gemeindewald nach Westen. Ich spürte es mehr, als dass ich es hörte. Dann lag der Wald still, und auch der Bach schien zu verstummen. In der plötzlichen Stille klang Larissas Stöhnen gespenstisch.
    »Gräfin!«, schrie ich sie an. »Ich hole Hilfe. Ich habe mein Handy nicht dabei. Ich laufe. Ich … « Dann sagte mir eine sehr ruhige, sehr vernünftige Stimme, die aus meinem Kopf heraus sprach, ich sollte die wenigen Minuten, die noch blieben, um Larissa zu retten, nicht damit vertun, herumzubrüllen und Belanglosigkeiten zu verbreiten. Bei Bewusstlosigkeit: Seitenlage, fuhr die Stimme fort. Ich hievte Larissas schweren Körper herum und achtete darauf, dass ihr Kopf auf der unverletzten Seite lag.
    Dann sprang ich auf und rannte.

3
    »Sie haben also nichts gesehen, nichts gehört?«
    Die Herrschaften von der Polizei, eine Frau in meinem Alter und ein etwas jüngerer Mann, saßen mir gegenüber im Speiseraum. Zwischen uns stand der breite Ahornholztisch mit den Kerzenständern von Ikea.
    »Ich bin im Schlosspark gewesen. Mit dem MP3-Spieler in den Ohren. Habe Verdi gehört.« Das klang so dämlich, das würden sie mir nicht glauben, obwohl es der Wahrheit entsprach. Aber keiner von beiden fragte nach.
    »Frau Laverde – wer war der Besuch

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