Fliehkräfte (German Edition)
auf die Bucht.
Gefunden, denkt Hartmut und lenkt sein Auto auf den hauseigenen Parkplatz. Vor ihm erstreckt sich eine hufeisenförmige, von bewachsenen Felsen umschlossene Wasserfläche. Zwei Segelschiffe liegen vor Anker, wo die Bucht ins offene Meer übergeht. Vor dem Aussteigen wechselt Hartmut sein verschwitztes Hemd, danach bekommt er mit Hilfe von Einwortsätzen und einem freundlichen Lächeln ein Zimmer im zweiten Stock. Vom Balkon aus kann er das Panorama in seiner ganzen Schönheit überblicken: ein breiter Sandstreifen in derselben Vanillefarbe wie die Wolken am Horizont, dazwischen das verschwisterte Blau von Himmel und Meer. Rauschen und verzücktes Kindergeschrei wehen ihm entgegen. Wäre Maria bei ihm, würde sie beide Hände auf das Geländer legen und still die Aussicht genießen. Immer kann er in ihrem Gesicht erkennen, wenn ihr etwas so gut gefällt, dass Worte sich erübrigen.
Erst eine Dusche, beschließt er, dann einen starken Drink gegen die Melancholie ortloser Einsamkeit.
Zwanzig Minuten später nimmt er die Treppe nach unten. Die Bar soll den Eindruck erwecken, dass sich der Gast an Bord eines Schiffes befindet. Blinde Bullaugen und hölzerne Steuerräder säumen die Wände, durch die offene Terrassenfront weht Meeresluft herein, zusammen mit dem Lachen zweier Touristen. Drinnen teilt sich ein älteres Paar eine Zeitung, ein jüngeres schweigt über griffbereiten Handys. Hartmut wählt einen Platz in Thekennähe und lässt sich von einer Laune dazu verleiten, Mojito zu bestellen. Er weiß nicht mal genau, was das ist. Da nur spanische Zeitungen ausliegen, gibt er den alleinreisendenälteren Herrn ohne Deckung, lediglich darum bemüht, die anderen Gäste nicht zu auffällig zu mustern.
Von außen betrachtet wirke jede Ehe skurril, hat Maria einmal entgegnet, als er nach einem Essen mit Hans-Peter und Lori meinte, die beiden seien ein merkwürdiges Paar. Vor zwei Jahren in Bonn war das. Hans-Peter und er hatten eine anstrengende Konferenz hinter sich, Lori und Maria kamen von einem Ausflug nach Aachen zurück. Müde und ohne Lust auf Gespräche saßen sie auf der Terrasse des Hotels Königshof. Der Abend mündete in einen Streit, den Hartmut im Nachhinein als den ersten erkannt hat, der sich an Marias Umzug nach Berlin entzündete. Ein Plan, von dem er damals nichts wusste, weil seine Frau ihn im Stillen erwog und darüber so schweigsam wurde, als schmollte sie grundlos vor sich hin. Sie stritten, Hans-Peter und Lori schauten betreten auf den Rhein. Es endete damit, dass Maria im Taxi zurück auf den Venusberg fuhr und er alleine im Auto. Jetzt beobachtet er, wie die junge Frau nach ihrem Handy greift und zu tippen beginnt. Das hübsche, von kurzen blonden Haaren umrahmte Gesicht erinnert ihn an Bibi Andersson in Persona . Dieselben wachen, empfindsamen Augen. Ihr Mann oder Freund ist ein sportlicher, gut aussehender Typ, der sein Hemd über der Hose und weiße Turnschuhe trägt. Hartmut tippt auf viel Tennis und einen öden Beruf mit Aufstiegschancen. Wahrscheinlich spielt er gelegentlich eine Partie mit dem Chef und lässt ihn genug Ballwechsel gewinnen, um seine Karriere nicht zu gefährden.
Der Anlass ist ihm entfallen, aber irgendwann hat Maria ihm gesagt, warum seine Kommentare gelegentlich vom Ironischen ins Gehässige gleiten: Weil du selbst nicht mehr so jung bist, wie du gerne wärst. Solche Hinweise meint sie nicht vorwurfsvoll, sondern gibt ihm zu verstehen, dass er in ihrer Ehe nicht der einzige aufmerksame Beobachter ist. Persona haben sie vor zwei Jahren zusammen mit anderen Bergman-Filmen auf DVD gesehen, aber von diesem war Maria am tiefsten berührt. Hinterher lag sie in seinen Armen, als müsste sie warmgehaltenwerden, und meinte, sie könne sich mit beiden Frauen identifizieren. Der hoffnungslose Traum des Daseins. Dass er den ersten Mojito bereits ausgetrunken hat, muss am vielen Eis liegen. Hartmut hält sein Glas in die Luft, und der gelangweilte Barkeeper reagiert sofort.
Was würde er antworten? Wann, wenn je, ist er so jung gewesen, wie er gerne sein wollte? Seins war das typische Los des Spätentwicklers, dessen beste Zeit beginnt, wenn sie bei den Alterskollegen zu Ende geht. Die erste große Liebe mit Ende zwanzig, deren Ende mit Anfang dreißig, und als er mit Maria nach Portugal fuhr, ging er bereits auf die vierzig zu. Dazwischen lag das verbissene Bemühen nachzuholen, was er davor verpasst hatte. Vater wurde er, als die anderen über Ausgehzeiten
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