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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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beenden.«
    »Ja?«
    »Keiner von uns beiden hat zu viele Freunde, richtig?«
    »Okay.« Sie sahen einander an, und für einen Moment glaubte Hartmut im Gesicht seines Freundes zu erkennen, warum der Altersunterschied für sie nie eine Rolle gespielt hatte: weil es die Jahre zwischen ihnen waren, die am schnellsten vergingen. Sich Bernhard mit sechzig vorzustellen, war beinahe leichter, als zu glauben, dass er selbst schon so alt sein sollte. Die Tränensäcke etwas schwerer, die Falten um die Augen tiefer. Im Nu ist es so weit, dachte er. Unten wurde die Haustür aufgeschlossen, oben standen Bernhard und er in der offenen Tür des Studios und umarmten einander.
    Die Frau auf dem Foto lächelte still. Als könnte sie Gedanken lesen.
    Die Autobahn folgt dem Verlauf der kantabrischen Küste. Rechts rollt und wogt das Meer, links ragen grüne Hänge empor, mit hier und da durchbrechenden Felsen. Obwohl Maria und er damals durch dieselbe Gegend gereist sind, sieht er alles wie zum ersten Mal. Die spanische Landschaft hat er als trocken, steinig und leer in Erinnerung, jetzt wirkt sie beinahe irisch kühl, mit grauer See und saftigen Weiden, auf die von oben dunkle Wolkenschatten fallen. Einmal wälzt sich neben der Straße eine Kuh auf der Wiese, als hätte sie einen Lachanfall. Das bekannte Ziehen im Rücken signalisiert ihm, dass es Zeit wird für eine Pause.
    Weil die Rasthöfe entlang der Strecke ihm nicht gefallen, verlässt Hartmut die Autobahn und fährt aufs Geratewohl ins Land hinein. Durch eng gebaute Dörfer mit Häusern aus groben Steinquadern und dunklem Holz. Vor einer schlichten Finca empfängt ihn der Wirt mit über dem Bauch gefalteten Händen, als sei ihm der Besuch angekündigt worden. Den Namen des Ortes hat Hartmut schon wieder vergessen, als er sich über einem winzigen Emaillebecken die Hände wäscht. Er entscheidet sich für einen Tisch vor dem Haus, bestellt kalte Melonensuppe und Salat und atmet die salzige Fäulnis, die vom Meer her übers Land weht. Aus offenen Fenstern hört er diegepresste Stimme eines Fernsehkommentators. Offenbar eine Sportübertragung.
    Wenige Autos sind auf der Straße unterwegs, an deren Rändern dicke braune Hühner nach Nahrung suchen. Hartmut beendet die Mahlzeit mit zwei Kugeln Eis, wird vom Hausherrn mit Handschlag verabschiedet und kehrt zurück auf die A 8. Inzwischen haben die Berge sich ihrer wolkigen Wimpel entledigt und ragen klar konturiert in den Himmel. Von einem Moment auf den anderen spürt er, wie seine Stimmung zu kippen beginnt. Das ganze Wochenende über hat er nichts von Maria gehört. Während sein Navigationsgerät ihn um Santander herum führt, erinnert er sich, wie sie damals anhalten mussten, um die große Michelin-Karte auf der Motorhaube auszubreiten. Einen Finger auf dünnen gelben Routen, Marias Haare in seinem Gesicht. Unterwegs hat sie manchmal die Hand auf seinen Oberschenkel gelegt und gelächelt. Für dich ist es Urlaub, sagte sie dann, aber nicht, was es für sie bedeutete, nach drei Jahren ihre Heimat wiederzusehen. Erst später ist er bei Max Frisch auf den Namen für die Stimmung im Auto gestoßen: die Melancholie der gemeinsamen Ortlosigkeit. Trotzdem, irgendwann auf dieser Reise muss ihm klar geworden sein, dass er mit niemandem sonst sein Leben teilen will.
    Wenige Kilometer weiter endet die Autobahn und entlässt ihn auf eine schmale Küstenstraße. ›Camino de Santiago‹ steht auf großen blauen Schildern. Die ersten Pilger sieht er im Ortseingang von Llanes. Eine Gruppe junger Leute, nur durch die von prallen Rucksäcken baumelnde Jakobsmuschel zu unterscheiden von Wanderern auf dem Eifelstieg. Im Schritttempo rollt Hartmut an voll besetzten Cafés vorüber, bewundert die Fassaden alter Hotels und hört die mal gackernd lachenden, mal sehnsuchtsvoll schreienden Möwen, die über dem nahen Hafen kreisen.
    Ohne anzuhalten, fährt er aus dem Ort hinaus. Die Dörfer beiderseits der Straße werden kleiner und scheinen die natürliche Deckung der Landschaft zu suchen. Schilder mit dem Hinweis ›playa‹ weisen in grünes Dickicht. Einmal glaubt er, sich verfahren zu haben in einem Labyrinth enger Gassen. Die lilafarbenen Blütendolden von Hortensien quellen über bröckelnde Steinmauern. Auf der Suche nach einer Wendemöglichkeit biegt er um die nächste Ecke und sieht das Hotel: dreistöckig, einladend und beinahe zu groß für den Ort. Wie ein auf Grund gelaufener Ozeandampfer sitzt es direkt am Strand und versperrt den Blick

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